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Kolumnen & Glossen

Die Blume

Eine Konsequenz des Erwachsenwerdens ist die, dass vielen Menschen ihre kindliche Unbekümmertheit verloren geht. Dies kann sogar dazu führen, dass der erwachsene Mensch ablehnend auf jene Unbekümmertheit reagiert, die er selber einmal gelebt hat. Doch hin und wieder gibt es dann diese Momente, in denen ihn die Erinnerung an die eigene Kindheit einholt. Und genau von solch einer Situation handelt die folgende Geschichte unseres Autors Andreas Ballnus.

yellowroseportraits / Pixabay.com

„Riech mal!“, sagte Mia und hielt mir eine Blume vor die Nase.
„Das ist doch nur eine Plastikblume!“, brummte ich und schob ihre Hand beiseite. Dann sammelte ich die Zeitungen auf, die wild verstreut um das Sofa herumlagen, und packte sie ordentlich in den Zeitungsständer. Seit etwa zwei Stunden war ich damit beschäftigt, die Wohnung zu putzen und aufzuräumen. Wenn Claudia nachher von ihrer Geschäftsreise zurückkam, sollte unser Heim wieder in einem top Zustand sein. Die Spurenbeseitigung der kleinen und größeren Pannen aus den letzten zwei Wochen dauerte deutlich länger als ich erwartet hatte. Nun kam ich zunehmend unter Zeitdruck. Insgesamt hatte ich es mir leichter vorgestellt, meinen Job und den Haushalt unter einen Hut zu bringen.

„Na und? Sie duftet trotzdem! Hier, riech doch auch mal!“
Wieder hielt sie mir die Blume entgegen, und sah mich erwartungsvoll an.
„Ach, hör doch auf mit dem Unsinn! Ich habe für sowas jetzt echt keinen Nerv. Das Ding ist aus Plastik und kann gar nicht duften, klar? Und jetzt lass mich hier weitermachen. Hast du inzwischen dein Zimmer aufgeräumt?“

Gereizt ging ich zum Fenster, um ein wenig zu lüften. Der Gestank von dem verbrannten Gulasch lag immer noch in der Wohnung. Ich hatte ihn morgens aus dem Tiefkühlfach genommen und war gerade dabei gewesen, ihn aufzuwärmen, doch dann lenkte mich der Anruf eines Freundes ab, so dass es zu einer größeren Rauchentwicklung gekommen war. Mit Mikrowelle wäre das nicht passiert, aber Claudia sträubte sich schon seit Jahren gegen die Anschaffung einer solchen Haushaltshilfe. Mia hatte sich dann über den anschließenden Besuch in einem Burger-Restaurant sehr gefreut. Diese Begeisterung hätte das Gulasch bei ihr nie ausgelöst. Claudia würde es sicherlich nicht gefallen, wenn sie erfuhr, wo wir heute Mittag zum Essen waren – doch sie würde es erfahren, denn Mia war als Geheimnisträgerin absolut ungeeignet.

Wir wohnten im fünften Stock eines Mietshauses. Für einen Moment blieb ich am geöffneten Fenster stehen und blickte nach draußen. Dort zogen dichte Regenwolken über die tristen Dächer der Siedlung. Die Straße war wie leergefegt. Nur ab und zu sah ich unten auf dem Bürgersteig einen Schirm entlanghuschen. Der Regen musste gerade erst aufgehört haben, es tropfte noch überall von den Dächern und Bäumen, und in den Rinnsteinen sammelte sich das Wasser, um dann irgendwo in irgendeinem Siel zu verschwinden. Zurück blieben matt glänzende Flächen aus Gehplatten und Asphalt. Es war eine graue, trübe Welt, auf die ich da hinunterschaute.

Die Gegend hatte sich in den letzten Jahren sehr verändert. Ich lebte schon als Kind hier. Mir fiel ein, wie ich damals an solchen Regentagen draußen herumgetollte habe. Nass und verdreckt kam ich abends nach Hause. Mutters Strafpredigten ließ ich schuldbewusst über mich ergehen. Und manchmal lag ich nach solchen Eskapaden ein paar Tage später mit einer Erkältung im Bett.

Doch wo waren jetzt die Kinder, die im Matsch spielten? Kinder, die Staudämme bauten oder mit kleinen Booten die Sieben Weltmeere für sich eroberten – eben so, wie wir es früher getan hatten. Unsere Fantasie kannte keine Grenzen: Einzelne Pfützen verbanden wir durch Kanäle, auf neu angelegten Inseln bauten wir Burgen, und Staudämme wurden errichtet oder wieder eingerissen. Wir waren Weltenbummler, Piraten und Baumeister. Wie groß war immer das Gemaule, wenn die Eltern uns abends oder sogar schon am späten Nachmittag ins Haus riefen. Mit den Gedanken bei unseren Bauwerken ließen wir wieder einmal die vorwurfsvollen Worte unserer Mütter über uns ergehen. Mit neuen Plänen für den nächsten Tag ging es dann zu Bett. Mit der Hoffnung, dass möglichst alles noch so war, wie wir es verlassen hatten, eilten wir am nächsten Tag zu unseren Pfützen. Schnell waren die Ermahnungen vergessen, diesmal mehr aufzupassen und uns nicht wieder so einzusauen.

Doch Staudämme, Brücken, Kanäle und Inseln verschwanden mit dem Bau der Siedlung. Stattdessen gab es Rutschen, Schaukeln und Klettergerüste aus Eisen, sowie Sandkästen, in denen sich keine Pfützen bilden konnten. Wir dachten uns neue Spiele aus: Das Klettergerüst, die Rutsche und die Schaukel wurden zu Raumschiffen, Flugzeugen, Rennwagen, U-Booten oder Felswänden. In den Sandkisten bauten wir Burgen, Höhlen oder Straßen für kleine Autos. Wir erfanden neue Spiele – nur die großen Pfützen gab es nicht mehr. Immer häufiger warteten wir nach einem Regenguss bis es draußen wieder trocken war. Dann erst trafen wir uns zum Spielen. Und irgendwann blieb der Spielplatz an Regentagen leer und verlassen.

Auch jetzt waren unten keine Kinder zu sehen. Doch selbst an schönen Sonnentagen wurde der Spielplatz kaum genutzt. Verbeulte Cola-Dosen, zerrissene Chipstüten und leere Zigarettenschachteln lagen verstreut in der Sandkiste umher. Von der Rutsche und dem Klettergerüst war schon längst die Farbe abgeblättert, und unter der Schaukel, die so furchtbar quietschte, hatte sich eine tiefe Mulde gebildet, in der sich nun etwas Wasser gesammelt hatte – es war die einzige Pfütze weit und breit.

Wie lange ich wohl hinausgeschaut hatte? Unten auf der Straße gingen die Laternen an. Langsam drehte ich mich wieder um. Mia stand immer noch da, die Blume in der Hand. Sie sah mich mit leuchtenden Augen an und sagte fast schon flehend: „Bitte Papa, riech mal! Ich hab sie doch extra für dich gepflückt! Sie duftet wirklich schön! Siehst du!“ Dann schnupperte sie an diesem Plastikteil und lächelte verzückt. Wieder hielt sie mir die Blume hin. Nach kurzem Zögern nahm ich sie und schnupperte ebenfalls an ihr.
„Hmm, danke! Du hast recht, sie duftet, wirklich sehr schön!“

 

–Andreas Ballnus —

_________________________

ZUM AUTOR

Andreas Ballnus
Jahrgang ’63, Liedermacher und Autor. Außerdem ist er Gründungs- und Redaktionsmitglied der Stadtteilzeitung „BACKSTEIN“. Unter dem Nick „anbas“ hat er in dem Literaturforum „Leselupe.de“ eine Vielzahl seiner Texte veröffentlicht. Er lebt in Hamburg und verdient sein Geld als Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst. Weitere Informationen: andreasballnus.de.tl

Bildquellen

  • Andreas Ballnus: Sebastian Lindau
  • child_1152068_640: yellowroseportraits / pixabay.com
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Hier finden Sie eine Übersicht aller Beiträge, die von Andreas Ballnus erschienen sind.

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