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Sterne des Meeres

Wieder einmal bildet die Nordseeinsel Amrum die Kulisse für eine Geschichte unseres Kolumnisten Andreas Ballnus. Diesmal geht es ums Altern, selbstbestimmtes Leben und Abschied nehmen. Keine leichte Kost – aber das Leben ist ja auch nicht immer leicht.

Momentmal / Pixabay.com

Abenddämmerung lag über der Insel. Es war, als würde der Himmel den rötlich schimmernden Spalt zwischen der dunklen Horizontlinie und der grauen Wolkenkante mit aller Macht schließen wollen. Nur sehr langsam wurde er schmaler, bis das Meer und der Strand in völlige Dunkelheit gehüllt waren. Die Wolkendecke war so dicht, dass kein Sternenlicht durch sie hindurch drang, und nur ein matter Fleck über dem Leuchtfeuer, das seine Blitzlichter monoton in die Nacht schickte, ließ erahnen, wo sich der Mond befand.

Arno saß auf der Aussichtsdüne, die zwischen jenem Leuchtfeuer und dem Badestrand von Norddorf lag. Ein heißer Sommertag ging zu Ende. Die Nacht war nun angenehm warm und der kühle Luftzug, der vom Meer herüber wehte, tat ihm gut. Er verharrte bereits seit dem frühen Abend dort und hatte fast ununterbrochen auf das Meer gestarrt. Ein paar Stunden zuvor war er auf der Insel angekommen. Die Anreise hatte ihm sehr zu schaffen gemacht und steckte schwer in seinen alten Knochen. Es war ganz anders als früher. Damals hatte er alle paar Jahre Urlaub auf Amrum gemacht und die Anreise mit Bahn, Fähre und Bus locker weggesteckt. Doch nun war er 86. Sein Körper hatte schon lange nicht mehr die Kraft dazu, all das umzusetzen, was sich Arnos immer noch sehr reger Geist ausdachte.

Seit 17 Jahren hatte er keine Reisen mehr gemacht. Zunächst war es reine Bequemlichkeit gewesen. Dann folgte eine Erkrankung nach der nächsten, und seine Ausflüge beschränkten sich auf die Fahrten zu den einzelnen Arztpraxen. Diese Odyssee fand erst ein Ende, nachdem er vor vier Jahren in ein Seniorenheim gezogen war. Dort hatte er sich zum Teil wieder erholen können. Aber eben nicht ganz. Er war weiterhin sehr schwach und konnte nur aufgrund der zahlreichen Medikamente, die er nehmen musste, den Tag weitgehend schmerzfrei durchhalten – ein Zustand, an den er sich einfach nicht gewöhnen konnte.

Auch die Reaktionen aus seinem Umfeld waren für ihn schwer zu ertragen. Immer wieder gab es von seinen Angehörigen und Bekannten sowie dem Personal des Heimes Versuche, ihn zu bevormunden und mit Ratschlägen, die er nicht hören wollte, zu überhäufen. Auch seine Reisepläne hatte man ihm immer wieder versucht auszureden. Aber Arno hatte es nun trotzdem getan. Heimlich. Er grinste bei dem Gedanken, dass inzwischen wahrscheinlich schon Suchmeldungen nach ihm im Radio liefen. ‚Tja, so kann man auch berühmt werden‘, dachte er und sein Grinsen wurde noch breiter. Ihm war es egal, ob sich irgendjemand Sorgen um ihn machte. Er war an seinem Ziel angekommen.

Aus seinem kleinen Rucksack holte er eine Thermoskanne mit Tee hervor. Er war bekannt dafür, dass er zu jeder Tages- und Nachtzeit und bei jeder Temperatur gerne Tee trank. Um ein wenig Orientierung in der Dunkelheit zu haben, legte er eine kleine Taschenlampe neben sich auf die Bank. Sobald er sich eingeschenkt hatte, machte er sie wieder aus, starrte in die Dunkelheit und nippte an seinem Tee.

Arno hatte eigentlich auf eine klare Sternennacht gehofft. Doch während des Tages wurde die Wolkendecke immer dichter. Von der Fähre aus konnte er während seiner Anreise sogar eine Regenfront beobachten, die langsam an Amrum vorbeizog.

Nachdem er den Becher geleert hatte, nahm er sein altes Handy und las sich noch einmal in Ruhe den Text der SMS durch, den er dort bereits seit Tagen als Entwurf abgespeichert hatte. Zufrieden schaltete er es wieder aus. Bei seinen Vorbereitungen zu dieser Reise hatte er einiges über Handy-Ortung gelesen. Sie konnten ihn ja gerne finden, aber nicht so schnell. Dann schenkte er sich noch einen Tee ein. Aus der Dunkelheit schienen immer wieder Lichter zu ihm hinüber. Einige bewegten sich, andere strahlten ruhig in die Nacht und wiederum andere blinkten so wie das Leuchtfeuer in seiner Nähe. Vor allem von der gegenüberliegenden Insel Sylt funkelte ein eindrucksvolles Lichterspiel über die schwarz umhüllte Nordsee.

‚Sterne des Meeres‘, dachte Arno und trank einen weiteren Schluck. Dann stand er auf und reckte sich. Die Wahrscheinlichkeit, dass jetzt noch irgendwelche Spaziergänger hierherkommen würden, war gering. Das wusste er aus Erfahrung. Wie oft hatte er früher an dieser Stelle gesessen, den Sonnenuntergang beobachtet und seinen Gedanken nachgehangen. Er liebte diesen Ort – besonders bei Sonnenuntergang und zur Zeit der Dämmerung. Er hatte sich in den letzten Jahren sehr danach gesehnt, noch einmal hier sein zu können. Bei aller Freude, dass er es nun geschafft hatte, spürte Arno aber auch die Signale seines Körpers. Die Anreise und dann der lange Fußweg zu der Aussichtsdüne waren für ihn anstrengender gewesen, als er es erwartet hatte. Zum Glück gab es diesen Aussichtspunkt noch. Er war nicht, wie er es in der Vergangenheit mit anderen vertrauten Plätzen erlebt hatte, den Stürmen zum Opfer gefallen. Arno hätte nicht die Kraft gehabt, sich einen neuen Ort zu suchen.

Anders wäre es gewesen, wenn ihn Max begleitet hätte. Max war sein einziger Vertrauter bei diesem Unternehmen gewesen. Mit ihm war er schon immer durch Dick und Dünn gegangen. Die anderen Freunde waren entweder Pflegefälle oder lagen, wie nun auch Max, unter der Erde. Mit seinen Söhnen konnte er überhaupt nicht über so etwas wie diese Reise reden. Sie waren stets der Meinung der Ärzte und ansonsten froh, wenn sie sich keine Gedanken um ihren Vater machen mussten. Doch Max war da anders.

„Dann komm ich eben mit“, hatte er nur gesagt, als Arno ihm erzählte, dass er ins Heim gehen müsse und sich Sorgen mache, weil er dort niemanden kennen würde. Und Max kam mit. Bereits als Arno so schlimm erkrankt war, hatte er ihn zu den Ärzten begleitet, ihn aufgemuntert und unterstützt, wo er nur konnte – und das konnte er nun wirklich gut. Max war nicht nur ein guter Unterhalter, sondern vor allem auch ein Organisations- und Beschaffungsgenie – Eigenschaften, die sich bei der Vorbereitung dieser Reise als überaus nützlich erwiesen. So besorgte er auch die zusätzlichen Medikamente, die es ihm überhaupt ermöglichten, die Fahrt nach Amrum weitgehend schmerzfrei zu überstehen.

Eigentlich sollte Max mitkommen. Er war von dem Plan völlig begeistert gewesen, als Arno ihm vor etwa anderthalb Jahren davon erzählt hatte. Doch Max schaffte es nicht. Ganz plötzlich verstarb er. Gut zehn Monate war es nun her, dass er auf einem Spaziergang zusammenbrach, einfach so. Dabei hatte er zuvor nie irgendwelche Ärzte aufsuchen müssen.

Von da an war Arno auf sich allein gestellt. Zunächst fühlte er sich wie gelähmt. Doch dann kehrte langsam sein Tatendrang zurück, und er arbeitete weiter an seinem Plan. Arno lächelte, als er an Max dachte. Der würde sich diebisch darüber freuen, dass dieser Coup so gut verlaufen war. Solche Aktionen hatte er immer geliebt. Ein wenig schlechtes Gewissen stieg in Arno allerdings schon auf. Er hatte Max den wahren Grund für diese Reise nie genannt. Aber Max hätte es verstanden. Doch nun, da er nicht mehr war, hatte sich dieses Thema eh erledigt.

Weil Max keine seiner Bezugsquellen je verraten hatte, musste Arno sich in den letzten Monaten mühsam selber die notwendigen Informationen und Mittel beschaffen. Das verzögerte die Umsetzung seines Planes erheblich.

Noch einmal goss er sich Tee ein. Es war diesmal ein sehr spezieller Tee, den er sich vor seiner Abreise aufgebrüht hatte. Vor allem die weiteren besonderen Zusätze, die er nun bedächtig einrührte, waren schwer zu beschaffen gewesen. Entschlossen nahm er einen großen Schluck davon.

Kurz nach Mitternacht ging auf dem Notfallhandy der Nachtwache eines Hamburger Seniorenheimes eine SMS ein: SIE KÖNNEN MICH ABHOLEN. ICH BIN AUF AMRUM. HIERHER WOLLTE ICH IMMER NOCH EINMAL FAHREN. NUN HABE ICH MEINE LETZTE REISE ANGETRETEN. SIE FINDEN MICH BEI NORDDORF AUF DER AUSSICHTSDÜNE ZWISCHEN BADESTRAND UND QUERMARKENFEUER. ES WÄRE SCHÖN, WENN VOR SONNENAUFGANG JEMAND HIER WÄRE, DAMIT MICH KEINE UNBETEILIGTEN FINDEN. VIELEN DANK FÜR ALLES! ARNO REICHERT

 

– Andreas Ballnus —

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ZUM AUTOR

Andreas Ballnus
Jahrgang ’63, Liedermacher und Autor. Außerdem ist er Gründungs- und Redaktionsmitglied der Stadtteilzeitung „BACKSTEIN“. Unter dem Nick „anbas“ hat er in dem Literaturforum „Leselupe.de“ eine Vielzahl seiner Texte veröffentlicht. Er lebt in Hamburg und verdient sein Geld als Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst. Weitere Informationen: andreasballnus.de.tl

Bildquellen

  • Andreas Ballnus: Sebastian Lindau
  • lighthouse_2750114_1280: Momentmal / pixabay.com
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