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Jamin-Kolumne: Das Trauerspiel des Ulrich Tukur

Auf einen Cappuccino: Die Jamin-Kolumne

Eigentlich wollte ich nicht noch einmal über #allesdichtmachen schreiben. Doch jetzt hat sich der Schauspieler Ulrich Tukur in der Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag zu Wort gemeldet. Mit einer Kurzgeschichte. Unter dem Titel: „In den Kulissen eines Trauerspiels“.

Zur Erinnerung: Unter dem Motto #allesdichtmachen haben rund 50 deutsche Schauspieler*innen jüngst vorgebliche Satire-Clips zur Corona-Pandemie abgeliefert. Und eine Riesenwelle an Diskussionen in den Medien und an den Stammtischen der Sozialen Medien erzeugt. Ich habe hier jüngst unter dem Titel „Corona #24: Liefers Boerne seziert die bösen Medien“ in meinem Blog darüber geschrieben.

Anstrengende Kurzgeschichte

Doch zurück zu Tukurs Kurzgeschichte. Die ist in sich ein Trauerspiel. Die ist so anstrengend wie sein Video-Clip für #allesdichtmachen. Er erzählt von einer Freundin, die er anonymisiert Irma nennt. Das Gespräch mit ihr endet so durcheinander und unverständlich wie auch die öffentliche Diskussion um #allesdichtmachen.

Warum? Der größte Fehler war, dass die Akteure von #allesdichtmachen sich auf dem Gebiet der Satire versuchten. Eine der schwierigsten der deutschen Text- und Stilformen. Jan Josef Liefers und Ulrich Tukur beispielsweise können das nicht.

Satire kann nicht jeder

Nicht nur, dass die meisten Kreativen eine Satire weder schreiben noch für Film oder Bühne entwickeln können. Die meisten Menschen können Satire auch nicht verstehen. Denn Satire ist sehr vom persönlichen Humor-Verständnis und vor allem vom Wissen um das behandelte Thema abhängig. Das, was etwa TV-Sender oft unter Satire verkaufen sind meist – gespielte – Witze.

Besonders schwierig hat es Satire, wenn extrem komplexe Themen wie etwa eine Pandemie und der Umgang von Politik und Verwaltung damit abgehandelt werden. Ein paar lockere Sprüche wie in Ulrich Tukurs Film reichen da nicht. Originalzitat: „…und so fordere ich unsere erhabene Regierung auf, endlich fair und konsequent zu beenden, was bisher total vermasselt wurde…“

Viele oberflächliche Sätze

In seinem „Satire“-Film sagt Ulrich Tukur etliche falsche oder oberflächliche Sätze. Und auch seine Kurzgeschichte bleibt dieser Linie treu. Allein dieser Satz birgt etliche Ungenauigkeiten: „Mir ging es, erklärte ich ihr (Irma, d.A.), darum, eine Politik zu hinterfragen, die uns seit über einem Jahr mehr oder weniger einschließt, die Basis unseres Lebensgefühls, unsere Kultur ausschaltet und demoliert, Kindern und jungen Menschen ihren Lebensstart vermasselt, uns die Lebensfreude nimmt und alle sich ständig ändernden Regelwerke, die dies durchsetzen, als alternativlos hinstellt.“

Tukur: Kultur ausgeschaltet

Zunächst einmal ist ja nicht die Politik schuld an der Pandemie. Sondern ein Virus. Die Politik hat nach bestem Wissen und Gewissen versucht, darauf richtig zu reagieren. Eine Politik, die uns seit über einem Jahr mehr oder weniger „einschließt“, schreibt Tukur: Einschließt? Wir haben uns, zugegeben mit Masken, weitgehend frei bewegen können – und 50 Schauspieler*innen konnten sogar für #allesdichtmachen Video-Clips produzieren.

Klagen auf hohem Niveau

Unsere Kultur ausgeschaltet und demoliert, schreibt Tukur: Ja, die Kulturhäuser waren dicht. Aber es gibt tausende Beispiele einschließlich #allesdichtmachen, dass die Kultur weitergelebt und -entwickelt wurde. Theater, TV und Kino wurde gemacht. Bücher geschrieben. Lieder komponiert.

Kinder und jungen Menschen ihren Lebensstart vermasselt: Ja, es hat erhebliche Einschränkungen gegeben. Kinder sind Opfer. Sicher. Aber von wem? Vom Virus? Von der Politik, die Tukur „hinterfragt“? Von Eltern, die sich nicht organisieren können oder wollen? Tukur stellt Thesen in den Raum, ohne sie sachkundig zu hinterfragen.

Uns die Lebensfreude genommen: Das ist Klagen auf hohem Niveau. Wir haben 12 Monate nicht ganz so in Saus und Braus gelebt. Na und?! Bedauernswert waren vor allem jene, die auf engstem Raum und mit minimalem Einkommen leben mussten. Auch auf Alten- und Pflegeheim-Bewohner trifft das zu. Kein Wort davon in Tukurs Story.

Fehler der Politiker

Sicher haben Politiker Fehler gemacht. Sicher gab es viele Alternativen, die in dem einen Bundesland oder von dem anderen Oberbürgermeister besser gemacht wurden. Doch wer ohne Fehler ist, werfe den ersten Stein. Jeder Manager trifft bis zu 30 Prozent falsche Entscheidungen. Vor solchen Fehlentscheidungen ist niemand sicher. Sie sollten nur ausgebügelt werden.

Schauspieler und Autor Tukur bedauert in seiner Kurzgeschichte auch „einen Gastwirt, dem nicht einmal die Tische im Freien erlaubt wurden“. Ja, wir alle kennen solche bedauernswerte Wirte. Aber auch in diesen Fällen ist die Politik, falls überhaupt, nur bedingt schuld. Eine andere, positive Sicht der Realität wäre diese: Vielleicht hat dieser Gastwirt dadurch einem Gast einen monatelangen Kampf gegen Covid 19 im Krankenbett erspart.

Unser Sozialstaat hilft

Der Schauspieler erzählt auch von einer „femme de ménage (keine Ahnung, welches der deutschen Wörter noch erlaubt ist, darum lieber französisch), die uns bat, zweimal in der Woche putzen zu dürfen, weil sie nicht mehr wisse, wie sie sich und ihre Familie durchbringen solle“. Ich hoffe, er hat ihr den Rat gegeben Sozialunterstützung beim Staat zu beantragen.

Für Millionen Deutsche ist ein solches Sozial-Einkommen oder eines im Niedriglohnsektor seit Jahren Alltag. Seien wir doch froh, dass wir in einer extremen Wirtschaft-Lage solche sozialen Absicherungen haben. Und stellen wir unbedingt die Frage, ob wir nicht ein Grundeinkommen für diese Menschen brauchen, das ein würdevolleres Leben mit Renten-Perspektive erlaubt.

Ziemlich blinde Prominente

Tukur klagt auch über die heftigen Reaktionen auf „eine solche Aktion, die aus ein paar mehr oder weniger witzigen, eher harmlosen Filmchen besteht“. Diese abwertende Einstellung von Tukur zur eigenen Aktion ist wirklich interessant. Auch frage ich mich natürlich, wie eine halbe Hundertschaft mehr oder weniger Prominente so amateurhaft blind in Fragen der modernen Kommunikation sein kann.

Selbstverständlich reagieren alle Medien auf eine so irritierende Aktion wie #allesdichtmachen. Und selbstverständlich laufen die Sozialen Medien vor lauter Kommentaren über. Was da Shitstorm genannt wird ist heutzutage ein ganz normaler Vorgang. Ein paar Hass- und Drohkommentare gehören leider auch dazu. Soziales Leben internet-life halt.

Bleiben Sie fröhlich. Bis nächsten Freitag. Auf einen Cappuccino…

Ihr Peter Jamin

 

Peter Jamin (© Michael Seelbach)

Peter Jamin arbeitet als Schriftsteller und Journalist. Er veröffentlichte – neben Kolumnen und Artikeln – mehr als 30 Bücher zu gesellschaftlich relevanten wie unterhaltsamen Themen. Darüber hinaus arbeitete er als Autor und Regisseur von Fernsehdokumentationen und -serien. Etliche Bücher schrieb er als Ghostwriter prominenter Zeitgenossen. Mit seinem Schwerpunktthema „Vermisst“ befasst er sich seit rund 30 Jahren; unterhält auch ein „Vermisstentelefon“ zur Beratung von Angehörigen Verschwundener. Ausgezeichnet wurde Jamins Arbeit u.a. mit dem „GdP-Stern“ der Gewerkschaft der Polizei „in besonderer Würdigung seiner herausragenden journalistischen Leistungen“. Infos zum Autor unter jamin.de.

Bildquellen

  • Peter Jamin: Michael Seelbach
  • Youtube Tukur allesdichtmachen: Youtube Ulrich Tukur / Screenshot Peter Jamin
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