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Jamin-Kolumne: Ein Kampf – ein Leben lang

Auf einen Cappuccino: Die Jamin-Kolumne

Wir konnten noch nicht sprechen, da nahmen uns die Mütter von ihren Brüsten und ließen uns nie mehr ran. Wir verstanden die Welt nicht mehr, lernten aber dadurch, zukünftig nicht loszulassen, was Mann einmal in den Fingern hat.

Als nächstes weigerten sich unsere Eltern, uns wieder in den Kinderstuhl zu heben, nach dem wir mit lautem Gebrüll durchgesetzt hatten, ein bisschen über den Boden zu krabbeln. „Das hast du nun von deinem Geschrei“, hieß es nur.

Einen Stuhl erwischen

Im Kindergarten lernten wir endgültig, was das heißt: „Aufgestanden. Platz vergangen.“ Wir rannten im Kreis um Stühle herum, von denen es immer einen weniger gab als Mitspieler. Wer beim Pausenzeichen nicht rechtzeitig einen Stuhl erwischte, flog raus.

Spätestens jetzt wussten wir, dass man seinen Platz, wo immer er auch sei, nie aus den Augen lassen darf und um jeden neuen Platz mit List und Tücke und notfalls mit geballten Fäusten kämpfen muss.

Kampf um Schreibtisch

Im Schullandheim musste man nur mal kurz auf der Toilette verschwinden – schon war der strategisch optimale Platz zum schnellen Abtauchen vor dem Geschirrspülen besetzt. In der Tanzschule kniffen wir dann eher die Blase zusammen, als unsere schöne Tanzpartnerin einen Moment allein zu lassen.

Lange kämpften wir auf der Arbeit erst um einen eigenen Schreibtisch, dann für ein eigenes Arbeitszimmer, hinter deren geschlossener Tür wir die Paraden gegen angreifende, neidische Kollegen vorbereiten konnten. Den Chefsessel verteidigte mancher von uns gelegentlich sogar mit fiesen Fußtritten gegen beißende Emporkömmlinge.

Haus und Hof verloren

Nach ein paar Jahren Ehe ließ uns die Ehefrau nach einem harmlosen Seitensprung nicht mehr ins eheliche Bett zurück. Mancher verlor durch solche Eskapaden sogar Haus und Hof an seine gewitzte Gattin.

Hunderte Male in unserem Leben wurden wir von Freunden und Fremden und Feinden durch beharrliches Klopfen von unserem Thron im WC verjagt. „Ich muss ganz schnell mal“, hieß die dumme Ausrede.

Als Platzhirsch konditioniert

In unserem Urlaubsflieger stürmten wir – seit Kindheit als Platzhirsche konditioniert – auf die Sitzplätze, obwohl die doch für jeden einzelnen mit dem Ticket reserviert waren und niemand uns einen Platz streitig machen oder uns gar aus dem Flugzeug werfen konnte.

Im Ferienhotel rannten wir jeden Morgen um Sechs zum Pool, um uns mit Handtüchern die besten Liegestühle zu reservieren; anschließend legten wir uns noch vier Stunden ins Bett, um auszuschlafen. Beim Frühstück bestanden wir beharrlich darauf, immer den gleichen Platz am gleichen Tisch am Fenster zu bekommen.

Streit um die Liegen

In der Sauna stritten wir regelmäßig um die wenigen Ruheliegen; wer aufstand, um kurz ein Dampfbad zu nehmen, fand anschließend einen Fremden auf seiner Liege. Der verwies hämisch auf das Schild an der Wand: „Reservierung der Ruheliegen nicht gestattet.“

Irgendwann begann die Zeit, da schlurften wir zum Friedhof und suchten uns einen schönen Platz, wo wir – von vielen Streitereien ermattet und endlich tot – für immer unseren Frieden finden würden. Wir zahlten im Voraus die Grabstelle und kauften auch eine Marmorplatte, auf der unser Name für ewig eingemeißelt wurde.

Die Schuld der Eltern

Aufgestanden. Platz vergangen! Das sollte es für uns nie mehr geben. Wir hatten endlich erreicht, wonach wir 60, 70 und noch mehr Jahre strebten und stellten uns endlich die eine Frage: Warum waren wir so dämlich und hatten die ganzen Jahre gekämpft, wo wir doch nichts für die Ewigkeit behalten würden?

Hörten wir auf die Anthropologen, dann kämpften wir noch immer wie die Neandertaler um jeden Platz, der nach einer Höhle aussah. Orientierten wir uns an den Kinderpsychologen, dann waren unsere Eltern schuld, weil sie uns zu früh von unserem ersten eigenen Platz, den im Kinderwagen, geschmissen hatten.

Der Kampf geht weiter

Glaubten wir den Theologen, dann hatte Gott jedem von uns einen Platz auf Erden zugewiesen; er vergaß nur zu sagen, welchen er für jeden einzelnen bestimmt hatte.

Heute habe ich erfahren, dass mein Grab aufgelöst und ein anderer Leichnam in meine Erde gelegt wird. Jetzt bin ich schon seit 25 Jahren tot – und der Kampf geht immer weiter.

Bleiben Sie fröhlich. Bis nächsten Freitag. Auf einen Cappuccino…

Ihr Peter Jamin

 

Peter Jamin (© Michael Seelbach)

Peter Jamin arbeitet als Schriftsteller und Journalist. Er veröffentlichte – neben Kolumnen und Artikeln – mehr als 30 Bücher zu gesellschaftlich relevanten wie unterhaltsamen Themen. Darüber hinaus arbeitete er als Autor und Regisseur von Fernsehdokumentationen und -serien. Etliche Bücher schrieb er als Ghostwriter prominenter Zeitgenossen. Mit seinem Schwerpunktthema „Vermisst“ befasst er sich seit rund 30 Jahren; unterhält auch ein „Vermisstentelefon“ zur Beratung von Angehörigen Verschwundener. Ausgezeichnet wurde Jamins Arbeit u.a. mit dem „GdP-Stern“ der Gewerkschaft der Polizei „in besonderer Würdigung seiner herausragenden journalistischen Leistungen“. Infos zum Autor unter jamin.de.

Bildquellen

  • Peter Jamin: Michael Seelbach
  • Gedenkstein: Peter Jamin
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