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Jamin-Kolumne: Vermisst – Influencerinnen gegen Mädchenhandel

Auf einen Cappuccino: Die Jamin-Kolumne

Wieviele Frauen und Mädchen verschwinden schätzungsweise jährlich in Deutschland in Menschenhandel und Zwangsprostitution? Das habe ich das Bundeskriminalamt in Wiesbaden gefragt – und das „Bundeslagebild 2019 – Menschenhandel und Ausbeutung“ erhalten.

Der Anlass meiner Anfrage: Jüngst beteiligten sich 27 deutsche Influencerinnen an einer spektakulären Aktion vom Fashion Label Eyd Clothing: Für 24 Stunden verschwanden sie aus dem Internet. Eine von ihnen ist Sabine alias „berosa_gogreen“ und auf dem Screenshot zu sehen. Grund für das Abtauchen: Die Influencerinnen wollten auf das Verschwinden von Frauen und Mädchen in Mädchenhandel und Zwangsprostitution aufmerksam machen.

BKA: 118 Opfer eingesperrt

Das ist eine tolle, lobenswerte Aktion. Ganz besonders, wenn man bedenkt, dass beispielsweise jeden Tag von der breiten Öffentlichkeit unbemerkt allein in Indien durchschnittlich 27 Frauen verschwinden. Das schreibt jedenfalls eyd-clothing.com auf der Internetseite ihrer Influencerinnen-Kampagne. In Deutschland sind laut BKA nur diese Zahlen bekannt: 2019 registrierte die deutsche Polizei in Verfahren wegen Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung 118 Opfer, die eingesperrt wurden.

115.000 Bürger*innen vermisst

Das ist eine verhältnismäßig niedrige Zahl angesichts der jährlich vermissten Bundesbürger*innen. Jedes Jahr werden mehr als 115.000 Menschen in Deutschland bei der Polizei als vermisst registriert. Davon sind rund 90.000 Kinder und Jugendliche. Dabei fallen jedes Jahr rund ein Prozent (also etwa 1.150 Menschen) aller Vermissten einem Gewaltverbrechen zum Opfer. Entführung, Mord, Totschlag. Rund drei Prozent (etwa 3.450 Menschen) sind sogenannte Langzeitvermisste. Sie bleiben länger als ein Jahr verschwunden. Oder verschwinden für immer spurlos.

Ein Chat mit eyd-clothing

eyd-clothing.com schreibt auf ihrer Home: „In unserer Awareness-Woche ‚Make the invisible visible‘ zum Thema Menschenhandel und Zwangsprostitution haben wir auf Instagram ein umfangreiches Aufklärungs- und Informationsprogramm zusammengestellt.“

Ich habe bei eyd-clothings.com nachgefragt. Mich interessiert deren Kampagne. Ich beschäftige mich schon seit 30 Jahren mit dem Thema „Vermisste Menschen“. Ich gelte, obwohl von Beruf Schriftsteller und Publizist, für Medien und Polizei als „Vermisst-Experte“, habe vier Bücher zum Thema geschrieben.

Verweis auf Organisationen

Es ergab sich ein interessanter Chat-Verlauf. Meine Eingangsfrage lautete: Wie viele Frauen und Mädchen verschwinden schätzungsweise jährlich in Deutschland in Menschenhandel und Zwangsprostitution?

Hannah von eyd-clothing.com antwortete prompt: „Hallo Peter, vielen Dank für deine Nachricht. Zu dieser Frage würde ich dir empfehlen, Organisationen wie IJM zu Rate zu ziehen – auch wir bekommen unsere Informationen meist über solche Partnerorganisationen.“

Expertise nur für Indien

Meine Antwort darauf lautete: „Das ist aber seltsam. Ihr wisst wie viele Frauen und Mädchen in Indien verschwinden, aber nicht wie viele in Deutschland? Interessiert euch das nicht, was vor eurer Haustür passiert?“

eyd-clothing-com schrieb: „Selbstverständlich, allerdings kann ich dir auf deine Frage aus dem Stegreif keine faktisch korrekte Antwort geben. Wie du sicherlich gelesen hast, ist die Arbeit unseres Labels aus der Kooperation mit einem indischen Sozialunternehmen entstanden. Daher betrifft unsere Expertise diesbezüglich insbesondere die Umstände dort.“

Eyd-Tipp: selber recherchieren

Noch hatte ich Hoffnung, mehr über die Situation in Deutschland zu erfahren. Meine Antwort: „Ihr macht aber eine Kampagne in Deutschland mit deutschen Influencerinnen. Könnt ihr nicht mal die Zahlen besorgen?“

eyd-clothing.com: „Wir sind ein deutsches Label mit Sitz in Deutschland, daher auch eine Kampagne mit hauptsächlich deutschen InfluencerInnen. Wenn du dich für die Umstände hier vor Ort interessierst, kannst du dich sicherlich gut über Institutionen informieren und engagieren, die sich damit befassen.“

Nicht pauschal denunzieren

Meine Antwort: „Sorry. Ich dachte, Ihr interessiert euch für das Thema und wolltet aufklären. Offensichtlich ist das hier nicht mehr als eine Werbekampagne für eure Produkte.“

eyd-clothing.com: „Leider kann ich deine Schlussfolgerung nicht nachvollziehen. Evtl. könntest du dich etwas genauer über unsere Arbeit informieren anstatt sie pauschal zu denunzieren, sofern du dich mit dieser Problematik außerhalb von Deutschland befassen möchtest. Ansonsten wünsche ich dir viel Erfolg bei deiner weiteren Recherche!“

Eyd-Umsatz verzehnfacht

Die Autorin Claudia Bayer schreibt auf meedia.de unter der Überschrift „Kampagnen ‚Make the invisible visible’ – Influencerinnen verschwinden – als Zeichen gegen Zwangsprostitution„: „… Bereits nach einer Woche hatte sich die Kampagne für Eyd ausgezahlt: Die Websiteaufrufe waren um 2.000 Prozent und der Umsatz um das Zehnfache gestiegen. Und auch nachhaltig soll die Aktion Wirkung zeigen, was laut dem Unternehmen – übrigens eine GmbH – sowohl in der Markenbekanntheit als auch am Warenkorb auszumachen sei…“

Bleiben Sie fröhlich. Bis nächsten Freitag. Auf einen Cappuccino…

Ihr Peter Jamin

 

Peter Jamin (© Michael Seelbach)

Peter Jamin arbeitet als Schriftsteller und Journalist. Er veröffentlichte – neben Kolumnen und Artikeln – mehr als 30 Bücher zu gesellschaftlich relevanten wie unterhaltsamen Themen. Darüber hinaus arbeitete er als Autor und Regisseur von Fernsehdokumentationen und -serien. Etliche Bücher schrieb er als Ghostwriter prominenter Zeitgenossen. Mit seinem Schwerpunktthema „Vermisst“ befasst er sich seit rund 30 Jahren; unterhält auch ein „Vermisstentelefon“ zur Beratung von Angehörigen Verschwundener. Ausgezeichnet wurde Jamins Arbeit u.a. mit dem „GdP-Stern“ der Gewerkschaft der Polizei „in besonderer Würdigung seiner herausragenden journalistischen Leistungen“. Infos zum Autor unter jamin.de.

Bildquellen

  • Peter Jamin: Michael Seelbach
  • berosa_go_green: Instagram berosa_gogreen / Screenshot by Peter Jamin
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