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Flüchtlingspolitik und Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt

Für business-on hat Dr. Susan Tuchel Mario Ohoven zu aktuellen Herausforderungen für den Mittelstand befragt.

Silker Borek

Mario Ohoven ist Präsident des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (BVMW) und des Europäischen Dachverbands nationaler Mittelstandsvereinigungen in Brüssel. Als Stimme des Mittelstands nimmt er zu Gesetzesänderungen und politischen Entwicklungen Stellung, die den Mittelstand vor immer neue Herausforderungen stellt.

Business-on.de: Sie haben unlängst vor einem drohenden Kollaps unseres Systems gewarnt. Mit einer Million Flüchtlingen oder mehr sei Deutschland überfordert. Bezieht sich das nur auf die über 260.000 unbearbeiteten Asylanträge?

Mario Ohoven: Nein, die Politik ist generell überfordert. Ich halte das Flüchtlingsproblem für die zentrale Herausforderung des nächsten Jahrzehnts für die deutsche wie europäische Politik. Allein seit dem 5. September kamen nach einem Geheimpapier des Bundesinnenministeriums fast 400.000 Flüchtlinge, zum Jahresende dürften 1,5 Millionen Flüchtlinge Deutschland erreicht haben. Niemand weiß, wie viele Flüchtlinge noch kommen werden. Durch den Familiennachzug müssen wir aber vom Faktor 3 ausgehen, das heißt, in den nächsten Jahren ist wohl mit ca. zehn Millionen Flüchtlingen zu rechnen. Die Koalition will im nächsten Jahr sechs Milliarden Euro zusätzlich für Asylsuchende ausgeben, drei Milliarden im Bund, drei Milliarden in den Ländern und Kommunen. Im Grunde genommen ist heute schon jedem klar, dass das niemals reichen wird. Nur die Sprachkurse bedeuten zusätzliche Kosten von 3,3 Milliarden Euro. Und wir haben heute schon fast 440.000 Hartz IV-Empfänger aus Fluchtländern, mit stark steigender Tendenz. Deshalb ist für mich ein Dreh an der Steuer – und Abgabenschraube längst nicht vom Tisch, auch wenn Frau Merkel das Gegenteil behauptet. Im Übrigen müssen viel stärker die Fluchtursachen bekämpft werden.

Business-on.de: Das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW) spricht davon, dass der Flüchtlingszuzug kurzfristig wie ein kleines Konjunkturprogramm wirke. Langfristig müssten die jungen Flüchtlinge jedoch auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen. Wie schätzen Sie die Chancen von Flüchtlingen aus Sicht des Mittelstands auf dem Arbeitsmarkt ein?

Mario Ohoven: Das klingt nach dem Prinzip Hoffnung. Wenn überhaupt, wäre es ein schuldenfinanzierter Konjunkturimpuls. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles schätzt, dass nur etwa zehn Prozent der Flüchtlinge direkt in eine Ausbildung oder Arbeit vermittelbar sind. Sie hat das Problem ganz offen im Bundestag angesprochen: „Meist fehlen die Deutschkenntnisse, aber auch anderes. Der syrische Arzt ist nicht der Normalfall.“ Einige Flüchtlinge kommen mit syrischen Pässen, sind aber keine Syrer. Der Mittelstand ist über jeden Ausbildungswilligen froh, der aber auch ausbildungsfähig sein muss. Ich teile die Einschätzung von Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn, der im Flüchtlingszustrom eben keine Lösung unseres akuten Fachkräftemangels sieht. Vielmehr schießt die Zahl der Hartz IV-Bezieher in die Höhe, laut Bundesagentur für Arbeit um über 20 Prozent seit September 2014. Flüchtlinge können bestenfalls die Fachkräfte von übermorgen sein. Laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg ist erfahrungsgemäß auch fünf Jahre nach dem Zuzug nur jeder zweite erwerbsfähige Flüchtling in Lohn und Brot. Erst nach 15 Jahren in Deutschland sind keine Unterschiede mehr zwischen den Schutzsuchenden und anderen Gruppen festzustellen. Nur frage ich mich dann: Wie können wir weiter einer buchstäblich grenzenlosen Willkommenskultur das Wort reden? Viele Bürger fürchten, dass die jungen Männer Ansprüche haben, und wenn diese nicht erfüllt werden, sie sich diese auf „andere Weise“ holen. Einige Rentnerinnen klagen, dass sie ca. 800 Euro Rente pro Monat erhalten, ein Flüchtling mit Familie aber ca. 2.000 Euro im Monat bekommt.

Business-on.de: Hat der Mittelstand, der immerhin weit über 90 Prozent aller Unternehmen ausmacht, eigene Ideen oder Programme entwickelt, um die fehlenden zehntausende Fachkräfte möglicherweise auch aus dem Flüchtlingsstrom zu gewinnen?

Mario Ohoven: Viele mittelständische Unternehmen wollen Flüchtlinge einstellen, scheitern aber wie so oft an der Bürokratie. Die Betriebe brauchen deshalb so schnell wie möglich und unbürokratisch Informationen: Was muss ich bei der Sozialversicherung beachten? Gilt der Mindestlohn ? Und so weiter. Da würde ein einfaches Datenblatt völlig ausreichen. Hier ist die Bundesregierung gefordert. Sie muss die Unternehmer informieren.
Unser Verband hat dazu einen 10-Punkte-Plan vorgelegt. Ganz wichtig sind Sprachkurse und die Aufnahme der 16- bis 25-jährigen Flüchtlinge an unseren Berufsschulen. Die Integration der Flüchtlinge, nicht nur beruflich, steht und fällt mit dem Spracherwerb. Und die jungen Männer müssen akzeptieren, dass sie bei uns auch von Lehrerinnen ohne Kopftuch unterrichtet werden. Darüber hinaus geht es nicht ohne eine Lockerung beim gesetzlichen Mindestlohn. Mittelständische Unternehmen können Arbeitskräfte mit niedriger Produktivität beschäftigen, aber eben nur, wenn die Löhne auch wirtschaftlich verkraftbar sind. Ebenso gehört die Vorrangprüfung auf den Prüfstand.

Business-on.de: In einem Maßnahmenpaket einigte sich die Koalition darauf, das Zeitarbeitsverbot für Asylbewerber nach drei Monaten zu kippen. Andererseits sieht der Koalitionsvertrag vor, die bislang unbefristete Möglichkeit der Arbeitnehmerüberlassung auf 18 Monate zu beschränken. Welche Folgen hätte das auch für die Asylbewerber und Flüchtlinge und welche für andere Zeitarbeitnehmer?

Mario Ohoven: Es war höchste Zeit, das Zeitarbeitsverbot für Asylbewerber zu lockern. Gerade das bietet doch eine Chance, die Menschen schnell in Arbeit zu bekommen und zwar dort, wo sie von der Wirtschaft auch wirklich gebraucht werden. Hier hat man die positiven Aspekte der Zeitarbeit also erkannt. Ich frage mich dann allerdings, warum diese Einsicht nicht dazu führt, endlich die Hexenjagd auf flexible Arbeitsformen abzublasen. Die drohende Befristung der Arbeitnehmerüberlassung nimmt der Wirtschaft Spielräume, die angesichts des Globalisierungsdrucks dringend gebraucht werden.
Für Arbeitnehmer ist das auch nicht hilfreich, denn die Flexibilisierungsinstrumente schützen die Stammbelegschaften vor Entlassungen bei konjunkturellen Schwankungen. Für Asylbewerber würde diese Form des Einstiegs in den Arbeitsmarkt durch die Höchstdauer wieder erschwert, während man sie doch gerade erst erleichtert hat. Negativ sind auch die Wirkungen auf andere Zeitarbeitnehmer: Große Projekte können auch mal unerwartet ein paar Monate länger dauern, und den Zeitarbeitnehmern wird die Möglichkeit genommen, ihr Projekt bis zum Abschluss zu begleiten. Auch das Gehalt steigt oft mit längerer Einsatzdauer – die Möglichkeit, davon zu profitieren, droht gestrichen zu werden. Die von Andrea Nahles angekündigten Erleichterungen, auch mehr als 18 Monate zuzulassen, wenn die Unternehmen tarifgebunden sind, kommt mal wieder nur den großen Unternehmen zu Gute und benachteiligt kleine und mittlere Betriebe zusätzlich im Wettbewerb.

Business-on.de: Wenn schon eine Befristung der Arbeitnehmerüberlassung erfolgen soll, welche Beschränkung wäre aus Sicht des Mittelstandes sinnvoll, um auch weiterhin bei konjunkturellen Schwankungen flexibel unternehmerisch agieren zu können?

Mario Ohoven: Die Befristung der Arbeitnehmerüberlassung wird vom Bundesarbeitsministerium gemeinsam mit einer stärkeren Regulierung von Werk- und Dienstverträgen geplant. Beides lehnen wir entschieden ab, weil es sich um wichtige Flexibilisierungsinstrumente handelt. Deutschland braucht gerade jetzt mehr Dynamik am Arbeitsmarkt, und nicht weniger. Wenn schon eine Befristung der Arbeitnehmerüberlassung erfolgen soll, werden Werkverträge aber umso wichtiger. Dieses Instrument muss erhalten und rechtssicher ausgestaltet werden. Gerade kleine und mittlere Unternehmen müssen flexibel auf unterschiedliche Auftragslagen reagieren können.

 

Susan Tuchel

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