Die Weinlese läuft auf Hochtouren. Nach Rivaner, Dornfelder, Weiß- und Grauburgunder, Kerner, Chardonnay und Spätburgunder werden aktuell die Rieslingreben gelesen. Erfolgt die Lese traditionell, werden die Reben mit der Hand abgeschnitten. Setzt der Winzer bei der Weinernte technische Hilfsmittel ein, wird viel vom Weinstock mitabgeschnitten und am Ende haben die Weinstöcke fast alle die gleiche Form.
Vergleichbares passiert Personalentscheidern, die Recruiting Software einsetzen, um Mitarbeiter „auszulesen“. Sie laufen Gefahr, gleichförmige Mitarbeiter einzustellen. Diese könnten sich im Unternehmen als Fehlbesetzungen erweisen, vor allem dann, wenn sich die Bewerber zuvor auf diese Programme vorbereitet und damit die Auswahl manipuliert haben.
Personalrecruiting braucht Zeit
Insbesondere bei Führungspositionen haben Fehlbesetzungen weitreichende Folgen. Sie können die Wettbewerbsfähigkeit und den langfristigen Erfolg eines Unternehmens gefährden. Daher setzen Personalentscheider zahlreiche Verfahren ein, um ihre Kandidaten auf Herz und Nieren zu prüfen. Die Personalberatung GET AHEAD Executive Search hat in einer aktuellen Umfrage mehr als 100 Unternehmen aus dem In- und Ausland zu den eingesetzten Diagnose-Tools bei der Führungskräfteauswahl befragt.
Das Ergebnis: Oft fehlt eine klare Anforderungsanalyse mit definierten Kompetenzen und Potenzialen. Auch ist ein Teil der eingesetzten Testverfahren aus wissenschaftlicher Sicht längst überholt (http://www.getahead.de/2017/06/hamburger-personalberatung-get-ahead-untersucht-verfahren-der-personalauswahl/).
Für meinen wichtigsten Job wurde ich einer Bewerbungs- und Prüfungsphase von neun Monaten unerzogen – vom Personalreferenten über den Bereichsleiter Personal, dem Personalvorstand bis hin zum Vorstandsvorsitzenden. Das war anstrengend und manchmal auch unbequem, aber das Unternehmen konnte sich ein umfassendes Bild von mir machen. Auf der anderen Seite gaben mir die Gespräche einen Einblick in das Unternehmen und die Firmenphilosophie.
Der Vorteil dieser zeitaufwändigen und sehr persönlichen Recruitingmethode: Der Mensch bzw. der Arbeitssuchende wird in all seinen Facetten, Eigenschaften und Eigenheiten betrachtet und analysiert und nicht von einem Computerprogramm in eine Kategorie geschoben. Eine Software kann nur Wissen abfragen und voreingestellte, auf einer hohen Wahrscheinlichkeit beruhende, Ergebnisse ausgeben. Aber den Charakter eines Bewerbers, seine Haltung zu Themen wie Ehrlichkeit, Respekt und Loyalität kann keine Software so gut herausfinden wie ein erfahrener Personalentscheider in einem persönlichen Gespräch.
Tipps für Personalentscheider: Nehmen Sie sich Zeit für Ihre Personal-Lese. Jede Minute, die Sie im Vorfeld investieren, zahlt sich in einer späteren, produktiven Zusammenarbeit und einem guten Betriebsklima aus. Machen Sie einfach etwas Ungewohntes: Gehen Sie mit dem Bewerber mittags essen, in die Mitarbeiterkantine, zum nächsten Italiener oder ins Café um die Ecke. Schauen Sie, wie der Kandidat auf diese Einladung reagiert und wie er sich in einer völlig anderen Umgebung als im Besprechungszimmer verhält. Wie sind seine Manieren, wie geht er mit den Servicekräften um, welche Themen bringt er in die Tischkonversation ein?
Die Personal-Lese wird umso schwieriger je höher die Position ist, die es zu besetzen gilt. Hier verhält es sich ähnlich wie bei der Spätlese oder bei der Lese des Eisweins. Dafür sind diese Gewächse aber besonders wertvoll. Gute Führungskräfte zu finden und an das Unternehmen zu binden, das ist die hohe Schule der Personaler, denn: Ein Arbeitnehmer kommt wegen des Images eines Unternehmens, aber er bleibt wegen der Menschen, die für das Unternehmen arbeiten.
Wulf-Hinnerk Vauk
Wulf-Hinnerk Vauk
