Seit der Erfindung des Buchdrucks ertönt das Lamento von der Informationsüberflutung. Einen ersten Versuch, Ordnung ins Bücher-Dickicht zu bringen, wagte im 16. Jahrhundert Konrad Gessner. Er verfasste mit der „Bibliotheca universalis“ eine der ersten Bibliographien.
Gessner listete über 10.000 Werke auf und widmete sich einer inhaltlichen Erschließung der Bibliotheksbestände: „Das Material habe ich von überall her zusammengetragen: aus Katalogen von Druckern, deren ich nicht wenige aus verschiedenen Gegenden zusammengesucht habe; aus Verzeichnissen von Bibliotheken selbst, öffentlichen ebenso wie privaten, die ich in ganz Deutschland und Italien sorgfältig eingesehen habe, aus Briefen von Freunden, aus Berichten von Gelehrten und schließlich aus Schriftstellerkatalogen.“ Das von Gessner entwickelte Verfahren ist im Prinzip schon ein hybrider Zettelkasten in buchgebundener Form – eine analoge Suchmaschine. Verzettelungsverfahren waren damals eine echte Revolution und versprachen die Errettung aus dem Datenchaos.
Ein trügerischer Glaube. Johann Gottfried Herder war im 18. Jahrhundert davon überzeugt, dass eine Bibliothek, die zu stark auf die Ordnung des Wissens Einfluss nimmt, Innovationen erschwert oder unmöglich macht. Kein Gelehrter könne das Universalarchiv noch einholen. Alles ist nicht zu lesen, zu kennen, zu wissen. Herder selbst wird deshalb zum Cursor, zum Läufer, der im virtuellen Raum der Gelehrtenbibliothek zwischen Texten durcheilt und in dieser schnellen Bewegung neue Querverbindungen schafft, die man so bisher noch nicht gelesen hat. Er wendet die Kulturtechnik der kursorischen Lektüre an. „Herder darf schnell werden, weil er nicht nur auf eine neue Form des Lesens rekurriert, sondern auch auf eine alte rhetorische und gelehrte Schreibtechnik. Es ist ein methodisches Verfahren, das ihm die Lizenz zum Flüchtigen gibt“, schreiben Matthias Bickenbach und Harun Maye in ihrem Buch „Metapher Internet – Literarische Bildung und Surfen“. Kanonische Wissensbestände sollten daher durch intelligente Suchroutinen ersetzt werden. Bildung unter hochtechnischen Bedingungen wäre demnach eine operative Kompetenz – im 18. Jahrhundert und auch heute! Es gehe darum, Wissenstechniken zu entwickeln, die als Such- und Kombinationsverfahren mit der Überfülle produktiv umgehen, so Bickenbach und Maye.
In der Bildungs- und Wissenschaftspolitik sollte daher verstärkt die Vermittlung von Informationskompetenz in den Vordergrund gestellt werden, fordert der wissenschaftliche Verleger Arnoud de Kemp, Initiator der Berliner Fachkonferenz Informare http://informare-wissen-und-koennen.com : „Es werden in Deutschland die falschen Akzente gesetzt. Man richtet sich zu stark auf die Medienkompetenz aus und meint den Umgang mit Computern. Hier sehe ich allerdings kaum noch Nachholbedarf. Jetzt geht es darum, sich auf Inhalte zu konzentrieren. Wichtig ist der Umgang mit Suchmaschinen und die Bewertung von Ergebnissen“, so de Kemp im Interview mit dem Düsseldorfer Fachdienst Service Insiders.
Als wichtiges Vorhaben sieht er das Theseus-Programm der Bundesregierung. Über semantische Technologien lassen sich Informationen auf ihre Inhalte hin auswerten, einordnen und verknüpfen. Computerprogramme können damit Informationen nicht nur mit Hilfe von Schlagwörtern oder Inhaltsfragmenten finden, sondern auch eigenständig deren Bedeutung ermitteln, sie in Beziehung zu anderen Informationen setzen, als Ordnungssysteme modellieren und nach bestimmten Regeln logische Schlüsse daraus ziehen.
„In den nächsten zwei bis drei Jahren werden wir zu interessanten Ergebnissen kommen. Wir haben allerdings noch nicht die Durchsetzungskraft wie die großen Technologiefirmen in den USA. Deshalb ist es wichtig, in Europa die Kräfte zu bündeln, um die Ergebnisse der Grundlagenforschung auch marktfähig zu machen. Da ist Deutschland einfach zu klein, um gegen die amerikanischen Giganten standzuhalten“, erklärt de Kemp. Spielraum in der Forschungsarbeit sieht er bei der Ästhetik und Funktion von Software. Informatikprofessor David Gelernter habe die richtigen Akzente gesetzt und eine Bauhaus-Ästhetik für das digitale Zeitalter gefordert. „Bei unserer Fachkonferenz im Mai möchten wir zeigen, dass es mehr gibt als nur Google. Mit der Informare wollen wir den Beweis antreten, dass sich die Welt nicht nur um zwei oder drei Suchmaschinen dreht“, so der Ausblick von de Kemp.
Wenn über Informationskompetenz diskutiert wird, sollte auch das nötige Wissen über die Grenzen von Filtersystemen im Internet vermittelt werden, fordert Udo Nadolski, Geschäftsführer des Beratungshauses Harvey Nash. „Die Personalisierung von Daten über Algorithmen oder Empfehlungen löst nicht alle Probleme der Datenflut. Es kann sogar zu negativen Effekten kommen. Wer sich einseitig auf die Filtertechnik verlässt, beschränkt die Möglichkeiten der Kombinatorik. Zufallsgesteuerte Zugriffe sind für die Wissensgesellschaft aber unverzichtbar. Insofern warnt der Web-Aktivist Eli Pariser zu recht vor dem Problem einer Filterblase“, resümiert Nadolski.
Text: Gunnar Sohn
