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Kolumnen & Glossen

Bald mal, irgendwann

„Prokrastination“ ist das Fachwort für die „Aufschieberei“. Sie gilt als Arbeitsstörung. Es gibt viele Menschen, die unter ihr leiden, wobei der Grad der Ausprägung unterschiedlich ist. Auch unser Autor Andreas Ballnus weiß genau, wovon er spricht und schreibt, wenn er sich diesem Thema widmet. Die folgende Geschichte ist allerdings eine Mischung aus realen Erlebnissen, Übertreibungen und reiner Fiktion.

geralt / Pixabay.com

Wenn ich heute das tue,
was ich sonst auf morgen verschieben würde,
wüsste ich morgen vielleicht nicht,
was ich tun soll.
(Andreas Ballnus)

Ich bin ein begnadeter Aufschieber. Lange war mir nicht klar, dass dies eine besondere Fähigkeit ist. Hielt mich stattdessen für faul, chaotisch, depressiv und phlegmatisch. Dass dahinter ein wahres Talent steckt, wurde mir erst während der jahrelangen Gespräche mit meinem Therapeuten bewusst.

In dem täglichen Kampf ums Aufschieben von Dingen, die eigentlich erledigt werden müssten, gehe ich gut strukturiert vor. Immer wieder fertige ich neue To-do-Listen an oder nehme mir zumindest vor, solche zu schreiben. Gut, das Umsetzen zieht sich dann etwas hin – aber genau dieses Spannungsverhältnis zwischen Planung und Umsetzung macht ja die wahre Kunst des Aufschiebens aus. Neulich gelang es mir, diese Fertigkeit noch etwas weiter zu optimieren. Da setzte ich auf meine frisch angelegte To-do-Liste, nur einen einzigen Punkt: Neue To-do-Liste schreiben!

Neben handgeschriebenen Listen und Notizen setze ich auch die moderne Technik ein. So lasse ich mich von meinem PC per Outlook zuverlässig an das Blumengießen und die anstehenden Geburtstagsgrüße erinnern. Dank der Möglichkeit, sich per einfachen Mausklick, in ein paar Minuten, Stunden oder Tagen erneut daran erinnern zu lassen, bleibe ich mir treu – ich kann das nämlich tagelang durchhalten und immer wieder auf „In einer Stunde noch mal erinnern“ klicken. Schließlich lasse ich mir doch von einer Maschine nicht sagen, was ich wann zu tun habe.

Einige meiner Pflanzen sind daher schon recht kross geworden. Aber Blumenschmuck wird sowieso überbewertet. Jene Gewächse aber, die wirklich hart im Nehmen sind und meinen Umgang mit ihnen überleben, haben bei mir eine glückliche Zukunft vor sich.

Was die Geburtstagsgrüße betrifft, so rechnet in meinem persönlichen Umfeld sowieso kaum noch jemand damit, dass einer meiner Glückwünsche rechtzeitig ankommt. Umso größer ist dann natürlich die Freude, wenn doch mal eine Geburtstagskarte pünktlich eintrifft.

Für absolut wichtige Dinge habe ich mir angewöhnt, kleine Notizzettel zu schreiben. Diese lege ich dann auf den Fußboden vor die Wohnungstür oder die Toilette. Da stolpere ich dann regelrecht über die Erinnerung. Doch dank meines Talentes kann ich mich an solche Zettel recht schnell gewöhnen, so dass sie nach einiger Zeit von mir völlig entspannt überschritten werden.

Leider kann nicht jeder mit meiner Begabung umgehen. So hat mich meine letzte Beziehung wegen eines simplen Umzugskartons verlassen. In ihm befanden sich ein paar Bücher, die von mir zwecks geplanten Flohmarktverkaufs aussortiert worden waren (mein Keller ist übrigens voll mit Dingen, die ich irgendwann mal auf dem Flohmarkt verkaufen möchte). Ich hatte den Karton in die Tür zwischen Schlafzimmer und Flur gestellt, damit ich auch wirklich daran denke, ihn nach unten zu bringen. Dort stand er dann einige Monate – man hätte sich an ihn gewöhnen können. Ich jedenfalls tat es und drückte mich immer geschickt an ihm vorbei. Meine damalige Freundin nicht. Sie stürzte eines Nachts über ihn, als sie auf dem Weg zur Toilette war. Die Platzwunde musste im Krankenhaus genäht werden. Als sie bei ihrer Rückkehr den Karton erblickte, den ich inzwischen ganz nah an die Wohnungstür gestellt hatte, um ihn ganz bestimmt bei meinem nächsten Gang nach draußen mit in den Keller zu nehmen, drehte sie sich sofort um, ging und kam nicht wieder.

Bei ihrem überstürzten Abzug hatte sie allerdings ein paar Sachen bei mir liegen gelassen und mich darum gebeten, ihr diese per Post nachzuschicken. Da mir klar ist, dass ich einen gehörigen Anteil am Scheitern unserer Beziehung habe, will ich ihr diesen Wunsch selbstverständlich erfüllen. Das Paket ist auch schon gepackt. Nun steht es bereits seit ein paar Wochen auf dem Karton, den ich damals gleich in den Keller bringen wollte.

In manchen Bereichen gelang es mir inzwischen, meine Aufschieber-Qualitäten regelrecht zu perfektionieren. So habe ich seit rund zehn Jahren keine Fenster mehr geputzt. Demnächst – also in etwa zwei bis drei Jahren – stehen hier im Haus sowieso Modernisierungsmaßnahmen an, es sollen auch neue Fenster eingebaut werden. Warum sollte ich also jetzt noch mit dem Putzen anfangen? Diesen Punkt werde ich daher künftig gar nicht mehr auf die To-do-Listen setzen.

Natürlich bin ich nicht der einzige Aufschieber. Es gibt viele von uns. Manche von ihnen sind wesentlich besser als ich. Sie spielen in einer völlig anderen Liga und sind die wahren Stars unter den Aufschiebern. So bekam ich neulich Post von einer Freundin, die in dieser Hinsicht eine absolute Meisterin ist. Ihren Perfektionsgrad und den souveränen Umgang mit ihrer Fähigkeit werde ich wohl nie erreichen. In dem großen Briefumschlag, den sie mir zuschickte, befand sich ein kleiner Stapel an Geburtstags- und Weihnachtskarten. Lediglich eine davon war beschrieben. Auf ihr stand nur: „Dies sind die Geburtstags- und Weihnachtsgrüße, die ich Dir in den letzten Jahren schicken wollte.“

 

–Andreas Ballnus —

_________________________

ZUM AUTOR

Andreas Ballnus
Jahrgang ’63, Liedermacher und Autor. Außerdem ist er Gründungs- und Redaktionsmitglied der Stadtteilzeitung „BACKSTEIN“. Unter dem Nick „anbas“ hat er in dem Literaturforum „Leselupe.de“ eine Vielzahl seiner Texte veröffentlicht. Er lebt in Hamburg und verdient sein Geld als Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst. Weitere Informationen: andreasballnus.de.tl

 

 

Bildquellen

  • Andreas Ballnus: Sebastian Lindau
  • sign_1865307_640: Gerd Altmann / pixabay.com
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