Es ist Dienstagnachmittag. Ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerung hat Feierabend und befindet sich auf dem Heimweg. Die U-Bahn ist rappelvoll. Das kleine Mädchen, das neben seiner Mutter am Fenster sitzt, hat große dunkle Kulleraugen und einen schokoladenverschmierten Mund. Ihm gegenüber sitzt das lebende Beispiel dafür, dass nicht alle Erwachsenen kleine Kinder mit großen Kulleraugen und schokoladenverschmiertem Mund süß finden.
Ich könnte das Gör erwürgen! Eigentlich wäre dies ja der Job seiner Mutter, aber die sagt mit leicht genervter Stimme immer wieder nur: „Nun pass doch endlich auf und tritt den Herren nicht ständig!“ Was allerdings lediglich dazu führt, dass mir die Kleine breit lächelnd gleich den nächsten Kick versetzt.
Natürlich ist mir klar, dass ich im Grunde die Mutter erwürgen müsste. Schließlich ist sie für die Erziehung oder Nicht-Erziehung dieses kleinen Monsters verantwortlich – doch im Moment bin ich felsenfest davon überzeugt, dass es der Menschheit den Weltfrieden deutlich näher brächte, wenn ich die Kleine um die Ecke bringen würde.
„Du intoleranter Spießer“, meldet sich plötzlich der Teil meines Gewissens, dem der Weltfrieden nicht ganz so wichtig zu sein scheint. „Stell dich nicht so an. Kannst ja den Platz wechseln!“
„… oder zurück treten!“, mischt sich mein innerer Kämpfer für den Weltfrieden ein.
Ich schaue mich um. Den Platz zu wechseln, dürfte schwierig werden – es ist einfach zu voll. Erfahrungsgemäß würde sich das auch an den nächsten Stationen nicht ändern. Natürlich könnte ich stehen, aber es liegen noch 20 Minuten Fahrt vor mir, und das will ich mir dann doch nicht antun.
„Lisa! Du sollst doch aufpassen!“, schimpft nun die Mutter deutlich energischer und schiebt mit einem kurzen Blick in meine Richtung ein „Entschuldigung“ hinterher.
Lisas süßer Schokoladenmund beginnt zu schmollen und die großen Kulleraugen ziehen sich zu zwei gefährlich wirkenden Schlitzen zusammen. Gleich darauf landet sie den nächsten Volltreffer.
Nun endlich handelt die Mutter. Energisch packt sie das Kind und setzt es sich auf den Schoß, wobei sie mit einer Hand die beiden Füße festhält, so dass diese keinen Schaden mehr anrichten können. Sofort fängt Lisa an, lauthals zu schreien. Die Frequenz liegt deutlich über dem, was ein normaler Mensch ertragen kann. Zeitgleich versucht die Mutter dem Kind zu erklären, dass dies die Konsequenzen aus seinem Ungehorsam wären. Doch Lisa brüllt unbeeindruckt weiter.
„Also manchmal“, stöhnt die Mutter, „könnte ich das Kind erwürgen …“
„Mein Reden“, denke ich, „mein Reden!“ und beschließe, an der nächsten Station auszusteigen. Hoffentlich finde ich in der nachfolgenden Bahn einen Sitzplatz.
– Andreas Ballnus —
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ZUM AUTOR
Andreas Ballnus
Jahrgang ’63, Liedermacher und Autor. Außerdem ist er Gründungs- und Redaktionsmitglied der Stadtteilzeitung „BACKSTEIN“. Unter dem Nick „anbas“ hat er in dem Literaturforum „Leselupe.de“ eine Vielzahl seiner Texte veröffentlicht. Er lebt in Hamburg und verdient sein Geld als Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst. Weitere Informationen: andreasballnus.de.tl
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