Aufgrund grundgesetzlicher Garantien ist die Finanzverwaltung wie jede staatliche Gewalt an „Gesetz und Recht“ gebunden (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG). Neben diesem sog. Grundsatz der Gesetzmäßigkeit bindet die Steuerverwaltung das Prinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Denn die Bevorzugung eines Steuerpflichtigen entgegen den gesetzlichen Vorschriften bedeutet eine unzulässige Benachteiligung aller anderen Steuerpflichtigen, die dem Gesetz entsprechend behandelt werden. Andererseits ist aber auch das Vertrauen des Bürgers in staatliches Verhalten geschützt. Diese Prinzipien der materialen Rechtsstaatlichkeit einerseits und der Rechtssicherheit andererseits können mit einander kollidieren:
- Aus Gründen der Rechtssicherheit dürfen Rechtsnormen und Vorschriften nicht rückwirkend verschärft werden (insbes. §§ 1, 2 StGB, aber auch § 207 Abs. 3 AO).
- Bestandskräftige Steuerbescheide können selbst bei Unrichtigkeit nur noch unter bestimmten Voraussetzungen zum Nachteil des Steuerpflichtigen geändert werden (§§ 172 ff. AO).
- Von der Finanzverwaltung wirksam erteilte Zusagen sind unabhängig davon einzuhalten, ob sie inhaltlich mit der materiellen Rechtslage im Einklang stehen (vgl. u.a. § 89 Abs. 2, §§ 204 ff. AO).
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (vgl. nur Urt. v. 30.3.2011 – XI R 30/09) wird in solchen Kollisionsfällen das geltende ( Steuer -) Recht regelmäßig durch den Grundsatz von Treu und Glauben (vgl. auch § 242 BGB) verdrängt, wenn das Vertrauen des Steuerpflichtigen in ein bestimmtes Verhalten der Steuerverwaltung vorrangig zu schützen ist. Das Finanzamt ist dann gehindert, einen nach dem Gesetz entstandenen Steueranspruch geltend zu machen. Dies kann der Steuerpflichtige (bereits) gegenüber einer Steuerfestsetzung geltend machen; eines gesonderten Billigkeitsverfahrens bedarf es dazu nicht.
Treu und Glauben verdrängen das Gesetz jedoch nur dann, wenn das Vertrauen des Steuerpflichtigen in ein bestimmtes Verhalten der Steuerverwaltung nach allgemeinem Rechtsgefühl in so hohem Maß schutzwürdig ist, dass demgegenüber die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung zurücktreten müssen. In Betracht kommt dies insbesondere dann, wenn dem Steuerpflichtigen eine bestimmte steuerrechtliche Behandlung zugesagt worden ist oder wenn die Finanzbehörde durch ihr früheres Verhalten außerhalb einer solchen klaren Zusage einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat. Dazu genügt ein zusageähnliches Verhalten etwa in der Form, dass die Behörde einen ihr bekannten Sachverhalt wiederholt in gleicher Weise beurteilt hat. Denn innerhalb eines bestehenden Steuerrechtsverhältnisses fordert der Grundsatz von Treu und Glauben, dass die Finanzbehörde und der Steuerpflichtige wechselseitig auf die Belange des anderen Teils Rücksicht nehmen und sich nicht mit dem eigenen früheren Verhalten in Widerspruch setzen (venire contra factum proprium).
Ein Anspruch des Steuerbürgers auf eine künftige, gleiche Sachbehandlung entsteht insbesondere dann, wenn er im Vertrauen auf die Richtigkeit des Verhaltens der Finanzbehörde Dispositionen trifft, also Maßnahmen oder Handlungen vornimmt, die sich nicht mehr ohne Weiteres rückgängig machen lassen. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, bei einer im Vertrauen auf eine bestimmte steuerliche Behandlung vorgenommen Betriebsverpachtung oder Betriebsaufspaltung. Sofern die Finanzbehörde über viele Jahre hinweg einen ihr bekannten Sachverhalt in einer gleichen Weise würdigt, dann aber die Beurteilung plötzlich ändert, ohne dass neue Tatsachen oder eine Änderung der Rechtslage dieses rechtfertigen, kommt es auf besondere Dispositionen des Steuerpflichtigen regelmäßig nicht einmal an.
Indessen binden nicht einmal Treu und Glauben die Finanzverwaltung, an einer als falsch erkannten Rechtsauffassung auf Dauer festzuhalten. Der von der Rechtsprechung entwickelte Grundsatz der Abschnittsbesteuerung erfordert es nämlich, die einschlägigen Besteuerungsgrundlagen für jeden Veranlagungszeitraum (Kalenderjahr) gesondert zu prüfen und jedes Mal neu rechtlich zu würdigen. Eine als rechtsirrige erkannte Beurteilung hat die Steuerbehörde selbst dann zum frühestmöglichen Zeitpunkt aufzugeben, wenn der Steuerpflichtige aufgrund einer längeren unzutreffenden Behandlung durch die Finanzverwaltung auf dieser – für ihn günstigen – Rechtsauffassung vertraut und entsprechend disponiert haben sollte.
Der Bundesfinanzhof hat es abgelehnt, aus dem Grundsatz von Treu und Glauben eine Pflicht der Steuerbehörde abzuleiten, den Steuerpflichtigen auf eine Änderung der als unzutreffend erkannten Behandlung hinzuweisen. Denn ein schutzwürdiges nachhaltiges Vertrauen in den Fortbestand einer früheren – nach neuerer Rechtsprechung nicht mehr haltbaren – Rechtsauffassung soll nur dann und nur solange gegeben sein, bis der Steuerpflichtige mit einer Änderung rechnen musste oder ihm zumindest Zweifel hätten kommen müssen. Aufgrund dieser von der Rechtsprechung judizierten Aufweichung der Bindungswirkung von Treu und Glauben ist der Rechtssicherheit und Klarheit suchende Steuerpflichtige gut beraten, die von Gesetz und Finanzverwaltung angebotenen formalen Wege zu beschreiten. Eine Bindung lässt sich danach erreichen durch:
- eine gebührenpflichtige verbindliche Auskunft (§ 89 Abs. 2 AO),
- eine verbindliche Zusage im Anschluss an eine Außenprüfung (§§ 204 ff. AO),
- eine Lohnsteueranrufungsauskunft (§ 42e EStG) sowie
- eine tatsächliche Verständigung über den der Steuerfestsetzung zugrunde liegenden Sachverhalt (vgl. BMF-Schreiben vom 30.7.2008, BStBl. I, S. 831).
Jedenfalls bei bedeutenden Steuerfolgen sollte von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht werden. Denn ein Vertrauen auf eine lediglich informelle Absprache oder eine Bindung der Steuerverwaltung aus Treu und Glauben könnte sich als trügerisch erweisen.
Christoph Hülsmann