Deutschland steht vor einem tiefgreifenden Wandel im Pflegesystem. Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt, gleichzeitig fehlen Fachkräfte, Pflegeplätze und klare politische Leitplanken. Besonders im Bereich der häuslichen Pflege und der sogenannten 24-Stunden-Betreuung zeigt sich, wie groß die Lücke zwischen Bedarf, Finanzierung und rechtssicheren Angeboten inzwischen geworden ist.
Norman Liersch ist Geschäftsführer der Pflegehilfe für Senioren 24 GmbH. Mit bundesweit tätigen Franchise-Partnern und langjährigen Kooperationen mit polnischen Partnerunternehmen vermittelt er Betreuungskräfte für die Live-in-Betreuung zu Hause. Im Interview spricht er über den tatsächlichen Zustand des Pflegemarktes, die Rolle von EU- und Drittstaatenkräften und darüber, wie eine würdevolle und finanzierbare Versorgung in Zukunft aussehen kann.
Business-On: Herr Liersch, wenn Sie den aktuellen Zustand des deutschen Pflegemarktes mit einem Wort beschreiben müssten welches wäre das und warum?
Norman Liersch: Überlastet. Der Pflegebedarf wächst deutlich schneller als die verfügbaren Kapazitäten – sowohl in der häuslichen Pflege als auch im stationären Bereich. Wir sehen einen massiven Fachkräftemangel, volle Einrichtungen und Angehörige, die immer mehr auffangen müssen. Gleichzeitig steigen die Preise in beiden Bereichen spürbar: Die Kosten für Pflegeheime ziehen ebenso an wie die Aufwendungen für Betreuung zu Hause. Das System läuft seit Jahren im Krisenmodus und reagiert zu langsam auf die demografische Realität.
Business-On: Warum wirkt das System trotz jahrelanger Warnungen so unvorbereitet?
Norman Liersch: Weil wir seit Jahren eher im Reparaturbetrieb arbeiten als an einer echten Strukturreform. Viele politische Akteure wissen, wie groß die Baustellen sind – gerade mit Blick auf die Babyboomer-Jahrgänge , aber kaum jemand traut sich an unpopuläre, tiefgreifende Veränderungen heran. Gleichzeitig ist die Integration von ausländischen Fach- und Betreuungskräften komplex: EU-Entsendung, Drittstaaten, unterschiedliche Ausbildungsstandards und Anerkennungsverfahren machen es schwierig, schnell Kapazitäten aufzubauen. Statt die häusliche Versorgung und legale 24-Stunden-Betreuung strategisch zu stärken, wurde zu lange an bestehenden Strukturen festgehalten.
Business-On: Sie sind täglich im Kontakt mit betroffenen Familien. Wie hat sich der Druck auf die Angehörigen in letzter Zeit verändert?
Norman Liersch: Der Druck ist deutlich gestiegen. Viele Angehörige versuchen, Beruf, Familie und Pflege unter einen Hut zu bringen häufig bis an die Grenze der Überlastung. Die Kosten steigen sowohl im stationären als auch im privaten Bereich, was die finanzielle Situation zusätzlich verschärft. Gleichzeitig merken viele Haushalte, dass ihnen insgesamt weniger frei verfügbares Einkommen bleibt. Familien müssen dann entscheiden, wie viel sie selbst leisten können und ab wann sie externe Unterstützung brauchen. In dieser Situation wünschen sie sich vor allem Orientierung, verlässliche Modelle und transparente Kostenstrukturen.
Business-On: Ihr Unternehmen fokussiert sich auf die 24-Stunden-Betreuung im eigenen Zuhause. Warum ist der Grundsatz „ambulant vor stationär“ mehr als eine politische Floskel?
Norman Liersch: Die meisten Pflegebedürftigen wollen so lange wie möglich in ihrem gewohnten Umfeld bleiben. Das Zuhause gibt Sicherheit, Orientierung und eine ganz andere Lebensqualität, als es ein Heimumzug leisten kann. Gleichzeitig sind die Eigenanteile im Pflegeheim in den letzten Jahren stark gestiegen und für viele kaum noch zu stemmen. Eine gut organisierte Live-in-Betreuung kann hier eine echte Alternative sein: Sie ermöglicht 1:1-Betreuung, entlastet Angehörige und reduziert den Druck auf die stationären Kapazitäten. „Ambulant vor stationär“ ist deshalb kein Slogan, sondern eine notwendige strategische Schwerpunktverschiebung.
Business-On: Der Markt für Betreuungskräfte aus dem EU-Ausland galt lange als Graubereich. Wie sorgen Sie heute für Rechtssicherheit und Qualität?
Norman Liersch: Der Schlüssel ist Konsequenz bei den Strukturen. Wir arbeiten ausschließlich mit geprüften Partnerunternehmen zusammen, die nach EU-Entsenderegeln agieren und transparente Lohn- und Sozialversicherungsstrukturen haben. Das heißt: klare Verträge, dokumentierte Prozesse, klar geregelte Verantwortlichkeiten. Dazu kommen definierte Qualitätskriterien bei Auswahl, Einsatzplanung und Feedback – sowohl auf Seiten der Betreuungskräfte als auch der Familien. Wir grenzen uns bewusst von intransparenten oder rechtlich unsauberen Modellen ab, weil wir wissen, dass nur legale, nachvollziehbare Lösungen langfristig tragfähig sind.
Business-On: Pflege ist teuer. Wie finanzierbar ist eine 1:1-Betreuung zu Hause für den Mittelstand heute noch, und welche Fördermöglichkeiten werden oft übersehen?
Norman Liersch: Für viele Haushalte ist die 24-Stunden-Betreuung zu Hause die kalkulierbarere Alternative zu den hohen Eigenanteilen im Pflegeheim. Entscheidend ist, dass alle verfügbaren Leistungen mitgedacht werden: Pflegegeld, Verhinderungs- und Kurzzeitpflege, Entlastungsbeträge und die steuerliche Absetzbarkeit haushaltsnaher Dienstleistungen. Viele nutzen diese Instrumente nicht vollständig, weil sie den Überblick verloren haben oder nie umfassend beraten wurden. Richtig kombiniert können diese Bausteine die monatliche Belastung deutlich reduzieren ohne dass an der Qualität der Betreuung gespart werden muss.
Business-On: Wenn Sie Gesundheitsminister Karl Lauterbach drei konkrete Maßnahmen vorschlagen dürften welche wären das?
Norman Liersch: Erstens braucht es klare, bundeseinheitliche Standards für die rechtssichere Live-in-Betreuung mit EU-Kräften, inklusive konsequenter Kontrolle unseriöser Anbieter. Zweitens sollten wir die Integration von Pflege- und Betreuungskräften aus Drittstaaten deutlich vereinfachen – etwa für Menschen, die bereits hier sind und arbeiten wollen, aber an langen Anerkennungsverfahren scheitern. Drittens müssen die Budgets für die häusliche Versorgung erhöht und pflegende Angehörige gezielt gestärkt werden. Wenn wir es ernst meinen mit „ambulant vor stationär“, dann müssen wir das auch finanziell und rechtlich abbilden.
Business-On: Schauen wir zehn Jahre in die Zukunft: Welche Rolle wird Technologie in der Pflege spielen? Kann Technik den Menschen ersetzen?
Norman Liersch: Technik wird eine immer wichtigere unterstützende Rolle spielen: bei Sturzerkennung, Monitoring, digitaler Dokumentation oder der Organisation von Einsätzen. Künstliche Intelligenz kann Vermittlung und Verwaltung deutlich effizienter machen und Personal von Routineaufgaben entlasten. Aber sie wird den Menschen nicht ersetzen. Pflege und Betreuung sind Beziehungsarbeit – sie leben von Vertrauen, Empathie und Präsenz. Technologie kann den Rahmen verbessern, Risiken reduzieren und Abläufe beschleunigen. Die eigentliche Betreuung bleibt ein menschlicher Auftrag.
Business-On: Sie sind Unternehmer in einem ethisch sensiblen Bereich. Wie balancieren Sie wirtschaftlichen Erfolg mit sozialer Verantwortung?
Norman Liersch: Für mich gehört das zusammen. Faire Bedingungen für Betreuungskräfte sind die Grundlage für stabile Einsätze und zufriedene Familien. Wenn wir an Löhnen, freien Zeiten oder Transparenz sparen würden, bräche das System mittelfristig zusammen. Unser Geschäftsmodell ist darauf ausgelegt, mit Partnern und Familien langfristig zusammenzuarbeiten nicht auf kurzfristige Gewinnmaximierung. Wirtschaftlicher Erfolg entsteht dann, wenn Qualität, Verlässlichkeit und saubere Strukturen überzeugend sind. In einem sensiblen Markt wie der Pflege ist Vertrauen die wichtigste Währung.
Business-On: Zum Schluss ein Blick nach vorn: Wie sollte die ideale Pflegelandschaft in Deutschland aussehen, damit wir ohne Angst alt werden können?
Norman Liersch: Wir brauchen ein System, in dem die häusliche Versorgung einen gleichberechtigten Platz neben der stationären Pflege hat mit klaren Regeln, fairer Finanzierung und sichtbarer gesellschaftlicher Anerkennung. Idealerweise können Menschen dort alt werden, wo sie leben möchten: zu Hause, mit ausreichend Unterstützung für Angehörige und einem transparenten Zugang zu legalen Betreuungsmodellen. Dazu gehören klare Qualitätsstandards, weniger Bürokratie und ein kluger Einsatz von Technologie. Wenn uns das gelingt, wird Pflege nicht mehr als ständiger Krisenmodus wahrgenommen, sondern als verlässlicher Bestandteil eines altersgerechten Gesellschaftsmodells.
Business-On bedankt sich für das Gespräch und die wertvollen Einblicke und bleibt dran an den Entwicklungen im deutschen Pflegemarkt.
Quelle: Foto von Rod Long






































































































