Stuttgart Hauptbahnhof. Der ICE aus Hamburg war pünktlich angekommen. In etwa zwanzig Minuten würde er wieder gen Norden zurückfahren. Es war ein heißer Juni-Tag. Clasen konnte die hohen Temperaturen, die auf dem Bahnsteig herrschten, nur schwer ertragen. Daher stieg er schon jetzt ein, anstatt sich vor der Abfahrt noch eine Zigarette zu gönnen. Es würde schon irgendwie gutgehen, die fünf Stunden bis nach Hamburg konnte er aufs Rauchen auch mal verzichten.
Im Zug war es deutlich kühler als draußen. Recht schnell fand er im sogenannten Ruhebereich ein Sechser-Abteil, in dem die beiden Plätze am Gang nicht reserviert waren. Clasen kam das sehr entgegen. Besonders heute empfand er die vielen Alltagsgeräusche, die auf ihn eindrangen, als puren Stress. Laut Anzeige würden zwei der anderen Mitreisenden bis nach Frankfurt und zwei bis nach Hamburg-Altona fahren. Da er in der letzten Nacht sehr schlecht geschlafen hatte, hoffte er nun, während der Fahrt zumindest ein wenig dösen zu können. Der ebenfalls nicht reservierte Sitz gegenüber ließ ihn auf ein wenig mehr Beinfreiheit hoffen.
Kurz nachdem er sich hingesetzt hatte, betraten ein älterer Herr und eine deutlich jüngere Dame das Abteil. Der Mann war etwa siebzig Jahre alt und sehr leger mit einer hellen Cordhose und einem kurzärmligen hellblauen Hemd gekleidet. Unter der schwarzen Schirmmütze, die er akkurat aufgesetzt hatte, quoll dichtes, lockiges graues Haar hervor, und sein sonnengebräuntes Gesicht wurde von unzähligen Falten durchzogen. Die Frau war ungefähr Mitte vierzig und aufwendig gestylt. Ihre dunklen, rötlich schimmernden Haare hatte sie hochgesteckt, und um den Hals trug sie eine schlichte goldene Kette, die sehr gut zu ihren Ohrringen passte. Sie sah aus, als würde sie gerade von einem Geschäftsessen oder einem anderen wichtigen Ereignis kommen. Beide grüßten freundlich und orientierten sich dann zu ihren Plätzen. Es waren die zwei Sitze neben Clasen – Ziel: Frankfurt/Main.
„Beide in Fahrtrichtung – das ist gut“, sagte die Frau und wuchtete, ehe Clasen seine Hilfe anbieten konnte, die beiden Koffer über den älteren Herren hinweg in die Gepäckablage.
„Du und dein empfindlicher Magen“, antwortete der Mann mit einem ironischen Lächeln. Sie schmunzelte kurz und schob sich dann an ihm vorbei, um den Platz am Fenster einzunehmen.
„Ich setze mich ans Fenster“, sagte sie ruhig und fügte trocken hinzu, „deine Augen sind ja eh nicht mehr so gut.“
Mit gespielter Empörung wandte sich der Mann Clasen zu.
„Falls Sie je auf die Idee kommen sollten, eine wesentlich jüngere Frau zu heiraten, dann sollten Sie sich das sehr genau überlegen“, sagte er und raunte dann noch mit einem Augenzwinkern, „das kann auf allen Ebenen eine Herausforderung werden“.
Bevor Clasen etwas erwidern konnte, zwängte sich ein junger Mann mit seinem Gepäck grußlos in das Abteil. Er hatte einen riesigen, seesackähnlichen Rucksack sowie eine Reisetasche bei sich. Während er den Rucksack auf den noch freien mittleren Sitz fallen ließ, platzierte er die Tasche darüber in der Gepäckablage. Anschließend setze er sich auf den anderen Fensterplatz, zog einen Laptop aus dem Rucksack heraus und legte ihn vor sich auf den Tisch. Auch jetzt beachtete er seine Mitreisenden nicht.
Unauffällig musterte Clasen den Mann. Dieser war Mitte zwanzig, sehr athletisch gebaut, hatte kurzgeschorene Haare und trug ein weißes Muskelshirt sowie eine Tarnfarbenhose. Auf dem rechten Oberarm war ein großer schwarzer Totenkopf mit roten Augen eintätowiert. Clasens Blick wanderte nun zu dem Rucksack. Aufgrund dessen Größe sah es fast so aus, als würde dort ein weiterer Fahrgast sitzen. Clasen fragte sich, ob der Mann diesen Platz extra dafür reserviert hatte – in die Gepäckablage hätte der Rucksack auf keinen Fall gepasst. Doch im Grunde interessierte ihn das alles nicht. Er wollte lediglich eine ruhige Fahrt bis nach Hamburg haben.
Gerade als er in der kleinen Reisetasche, die er bei sich hatte, nach seiner Wasserflasche suchte, ertönte das Smartphone des jungen Mannes. Es war ein unangenehmer schnarrender Klang. Clasen merkte, wie sofort die Anspannung in ihm stieg. Er hoffte, dass es nur ein kurzes Telefonat werden würde, schließlich war auch das Telefonieren im Ruhebereich nicht erwünscht. Clasen hatte in den letzten Jahren gelernt, Grenzen zu ziehen und klare Kante zu zeigen. Wenn also das Gespräch länger dauern sollte, würde er mit Sicherheit etwas unternehmen.
Der junge Mann hatte eine erstaunlich ruhige und sanfte Stimme. Sie passte gar nicht zu seinem äußeren Erscheinungsbild. Er schien mit seiner Freundin zu sprechen, die wohl einen kleinen Unfall gehabt haben musste. So erkundigte er sich nach ihrem Befinden und ob sie gut vom Arzt nach Hause gekommen wäre. Gleich darauf beendete er auch schon das Gespräch und wandte sich seinem Laptop zu, den er zwischenzeitlich aufgeklappt und hochgefahren hatte.
Clasens Blick wanderte nun verstohlen zu dem Ehepaar. Sie hatten derweil eine Packung mit Keksen auf den Tisch gelegt, aus der sie sich hin und wieder bedienten. Die Frau blätterte konzentriert in einem Finanzjournal während ihr Mann sich mit dem Kreuzworträtsel einer Tageszeitung beschäftigte.
„Was ist eigentlich bei der Überprüfung herausgekommen?“, fragte der ältere Herr plötzlich ohne weiter aufzublicken.
Seine Frau atmete tief durch und schaute ihn ärgerlich an.
„Du weißt doch, dass du …“
„Schon gut, schon gut!“, unterbrach er sie. „Ich weiß, dass ich nicht …“
„Dann halte dich auch daran!“, grollte sie und wandte sich wieder ihrem Magazin zu.
Inzwischen war der Zug losgefahren. Die Klimaanlage im Abteil funktionierte leidlich. Es war warm, aber noch auszuhalten. Clasen lehnte sich zurück und schloss die Augen. Doch wirklich entspannen konnte er sich nicht. Eine innere Stimme signalisierte ihm Alarmmeldungen, die er aber nicht einordnen konnte. Gerade, als er ein wenig weggedöst war, schnarrte erneut das Smartphone des jungen Mannes. Missmutig schaute Clasen zu ihm hinüber, doch dieser starrte während des Telefonats weiterhin nur auf seinen Laptop. In dem Gespräch ging es diesmal um irgendein Event und den Verbleib einer Trinkgeldkasse. Mehrfach wurde es unterbrochen, weil der Empfang abbrach. Doch dann konnte die Angelegenheit scheinbar geklärt werden, und es kehrte wieder Stille ein. Lediglich das Ehepaar wechselte hin und wieder leise ein paar belanglose Worte.
Als der Zugbegleiter kam, um die Fahrkarten zu kontrollieren, schreckte Clasen auf. Er war anscheinend nicht nur ein wenig weggenickt, sondern musste sehr tief geschlafen haben.
„Guten Morgen!“, sagte der Schaffner grinsend und wandte sich zunächst den anderen Reisenden zu. Als er die Fahrkarte des jungen Mannes sah, runzelte er die Stirn und deutete auf den Rucksack.
„Sie sind zwei Personen?“
„Nein, der andere ist kurzfristig abgesprungen“, sagte der junge Mann mit einem verlegenen Lächeln.
„Na was für ein Glück auch. Sonst hätten Sie das Teil vielleicht bis nach Altona auf dem Schoß haben müssen“, antwortete der Zugbegleiter trocken und kontrollierte die übrigen Karten.
Kaum hatte er das Abteil verlassen, schlief Clasen wieder ein. Es schien, als würde nun allmählich der Druck von ihm abfallen, unter dem er in den letzten Jahren gestanden hatte. Und doch blieb ein Rest dieser Anspannung, die sich tief in ihn eingegraben hatte. Der Weg in sein neues Leben war noch weit – doch das war ihm von Anfang an bewusst gewesen.
Erst als sie in Frankfurt ankamen und das Ehepaar ausstieg, wurde er wieder wach. Diesmal wollte er bei den Koffern helfen, doch die Frau wies sein Angebot mit einem klaren „danke, es geht schon!“ resolut zurück.
Der junge Mann hatte, während Clasen schlief, die Armlehne zwischen seinem und dem Nebenplatz hochgeklappt, sich mit dem Rücken an den Rucksack gelehnt und die Beine angezogen, so dass er nun auf den beiden Sitzen lag. Clasen stellte beruhigt fest, dass keine Schlafgeräusche zu hören waren, so dass einer ruhigen Weiterfahrt nichts im Wege stand.
In diesem Moment wurde die Abteiltür aufgezogen und eine ältere Frau trat ein. Sie war klein und hager, wirkte aber sehr agil. Clasen schätzte ihr Alter auf Ende siebzig oder sogar noch älter. Ihre mittellangen grauen Haare, die noch einige schwarze Strähnen aufwiesen, waren streng nach hinten gekämmt, sie wirkten ein wenig fettig und vernachlässigt. Trotz der Hitze, die draußen herrschte, hatte sie eine dünne beige Jacke an. Die Frau setzte sich auf den freigewordenen Fensterplatz und legte ihre braune, schon stark abgegriffene Handtasche auf den mittleren Platz zwischen Clasen und sich. Missmutig schaute sie zu dem schlafenden Mann hinüber. Dann holte sie aus ihrer Jackentasche ein kleines Fläschchen hervor, schraubte den Verschluss auf und nahm einen kräftigen Schluck. Anschließend verschwand die Flasche wieder dort, wo sie hergekommen war.
Clasen lehnte sich zurück, um weiter zu schlafen. Der Zug war bereits wieder abgefahren. Im Abteil herrschte nun eine angenehme Stille. Doch dann wurde die Tür erneut aufgerissen und eine junge Frau schaute hinein. Sie machte einen etwas abgehetzten Eindruck. Ihr Anblick ließ Clasen sofort alles um sich herum vergessen.
„Ist der Platz noch frei?“, fragte sie und deutete auf den Sitz gegenüber von ihm hin.
„Aber sicher“, sagte die ältere Frau während Clasen nur nickte. Er spürte, wie eine altvertraute Unruhe in ihm aufstieg.
„Gottseidank! Ich bin schon durch den halben Zug gegangen – alles voll. Bei dieser Hitze ist das echt kein Vergnügen.“
Mühelos beförderte sie ihren kleinen Koffer in die Gepäckablage und setzte sich dann. Die Frau musste ungefähr achtzehn, neunzehn Jahre alt sein, also etwa dreißig Jahre jünger als Clasen. Sie war auffallend schlank, trug eine dünne weiße Bluse und einen ebenfalls weißen Rock, der ihr bis zu den Fußgelenken reichte. Das dunkelbraune, fast schwarze Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Clasen schloss die Augen und konnte nicht fassen, was hier gerade passierte. Er spürte, wie ihm der Schweiß die Stirn herunterlief. Von Müdigkeit war keine Spur mehr. Diese Frau passte genau ins Schema – in sein Beuteschema.
Inzwischen war der junge Mann wach geworden und nestelte aus dem Rucksack ein kleines Plastikpäckchen hervor. Mit der Schere seines Taschenmessers öffnete er es. Darin befanden sich würzig riechende Fleischstücke, von denen er ein paar nahm und sich bedächtig in den Mund schob. Die angebrochene Packung legte er anschließend neben den Laptop auf den Tisch. Dann lehnte er sich wieder an seinen Rucksack und schlief weiter.
Clasen starrte aus dem Fenster, um sich abzulenken. Sein Blick streifte dabei die alte Frau, die gerade einen Apfel aß. Er bemerkte die kleine kreuzförmige Tätowierung, die sie auf ihrem linken Handrücken hatte. Zwischen Daumen und Zeigefinger entdeckte er außerdem drei Punkte, die dort ebenfalls eintätowiert waren. Sie musste also mal im Gefängnis gesessen haben. Clasen kannte diese Tattoos nur allzu gut.
Die junge Frau hatte sich währenddessen das Bahnmagazin genommen, das bis dahin unbeachtet auf dem Tisch im Abteil gelegen hatte, und blätterte desinteressiert in ihm herum. Clasens Versuche, sie nicht weiter zu beachten, scheiterten auf ganzer Linie. Immer wieder wanderte sein Blick zu ihr hinüber, stets darauf bedacht, dass sie nicht merkte, wie er sie musterte. Seine innere Anspannung steigerte sich bis ins Unerträgliche. Schließlich erhob er sich und ging zur Toilette. Er brauchte eine Auszeit. Warum musste sie ihm ausgerechnet heute begegnen? Warum gerade heute am Tage seiner Entlassung? Sicher, ihm war immer klar gewesen, dass er nach seiner Haftzeit irgendwann weitermachen würde. Aber noch war er nicht so weit. Zunächst wollte er seine Freiheit genießen und sich vor allem ein neues Leben aufbauen. Deshalb fuhr er ja zu Yvonne, seiner Schwester, nach Hamburg, weit weg von dem Ort, an dem ihn alle kannten. Yvonne hatte ihm ein Zimmer zur Untermiete besorgt. Mit Arbeit sah es aber schlecht aus. Wer stellte schon einen Vorbestraften ein?
Langsam beruhigte sich Clasen wieder. Als er in das Abteil zurückkehrte, schlief der junge Mann immer noch, und die alte Frau am Fenster las in einem leicht zerfledderten Taschenbuch. Sofort fiel Clasens Blick wieder auf die junge Frau, die inzwischen intensiv mit ihrem Smartphone beschäftigt war. Eifrig tippte sie Nachrichten ein. Hin und wieder huschte ein verträumtes Lächeln über ihr Gesicht. Die Ähnlichkeit mit der Kleinen, wegen der man ihn später verhaftet hatte, war verblüffend.
Sie erreichten den Frankfurter Flughafen. Einige neu zugestiegene Fahrgäste schoben sich am Abteil vorbei, doch niemand schien ein Interesse an den noch freien Mittelplätzen zu haben. Schon fuhr der Zug wieder an, sein nächster Halt würde Kassel sein.
Bis heute wusste niemand, dass er damals nicht nur diese eine Tat begangen hatte, wegen der er dann auch verurteilt worden war. Und erst recht ahnte kein Mensch etwas davon, dass er eigentlich noch lange nicht mit der Frau fertig gewesen war, als sie ihm entkommen konnte. Daher fiel das Urteil noch relativ milde aus. Doch auch sieben Jahre waren eine verdammt lange Zeit.
„Sie müsste im Alter von Simone sein“, durchfuhr es ihn. Er hielt inne. Seit der Verhaftung hatte er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie gehabt. Nie war jemand zu Besuch gekommen, und die Briefe von ihm waren stets unbeantwortet geblieben. Lediglich Yvonne hatte weiter zu ihm gehalten. Nun wurde ihm bewusst, dass seine Tochter jetzt etwa so alt war wie damals seine Opfer. So hatte er das bisher noch nie gesehen. Und jetzt saß da diese junge Frau vor ihm, die ihn nicht nur an seine früheren Taten, sondern an noch so vieles mehr erinnerte. Erneut überlegte er fieberhaft, wie er sich ablenken könnte. Am einfachsten wäre es für ihn aber, wenn sie an der nächsten Station in Kassel aussteigen würde.
Clasen holte sich seine Wasserflasche hervor und nahm mehrere kräftige Züge. Sein Mund war völlig ausgetrocknet. Dann lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Doch der Anblick dieser jungen Frau verfolgte ihn weiter und ließ ihn nicht los. Erfolglos bemühte er sich darum, wieder einschlafen zu können.
Nach einiger Zeit kam der Zugbegleiter und ließ sich die Fahrkarten der beiden neu Zugestiegenen zeigen.
„Halten wir auch in Hamburg-Dammtor?“, fragte die junge Frau.
„Klar, außer der Lokführer pennt“, antwortete der trotz Hitze sichtlich gut gelaunte Schaffner.
„Das kann passieren“, mischte sich die ältere Frau ein. „Ist schon ein paarmal vorgekommen. Irgendwo bei Wolfsburg, glaube ich.“
„Genau, und zur Strafe muss der Lokführer jetzt die Strecke Stuttgart-Hamburg fahren“, sagte der Zugbegleiter ruhig und schloss die Tür.
Clasen schmunzelte. Diese kurze Unterbrechung seines Gedankenkarussells hatte ihm gut getan. Doch gleichzeitig wusste er, dass er ein riesiges Problem hatte – und das saß ihm genau gegenüber.
„Wo geht’s denn hin?“, fragte er die ältere Frau und hoffte, sie so in ein Gespräch verwickeln zu können.
„Nach Kassel“, antwortete diese und wandte sich dann wieder ihrem Buch zu. Sie hatte offensichtlich kein Interesse an einer Unterhaltung. Clasen musste einen anderen Weg finden, um mit der Situation zurechtzukommen. Doch er sah für sich keine andere Möglichkeit, als ebenfalls in Kassel auszusteigen, um dann einen anderen Zug nach Hamburg zu nehmen. Anders war das Problem für ihn im Moment nicht zu lösen. Um sich wenigstens ein wenig abzulenken, stand er auf und schlenderte einmal durch den gesamten Zug. Im Bordbistro machte er eine Pause und gönnte sich einen Kaffee. Jetzt hätte er gerne eine Zigarette geraucht. Beim Weitergehen überlegte er, ob ein Platzwechsel vielleicht hilfreich sein könnte. Doch abgesehen davon, dass der Zug weiterhin sehr voll war, hielt ihn irgendetwas davon ab und zog ihn zurück in sein Abteil, obwohl er wusste, dass ihm das nicht gut bekommen würde.
Als er wieder zurückkehrte, hantierte der junge Mann an seinem Smartphone herum. Clasen hatte das Gefühl, dass er von ihm unauffällig aber eingehend aus den Augenwinkeln heraus gemustert wurde, doch er ließ sich nichts anmerken. Nach einiger Zeit nahm sich der Mann wieder ein Stück Fleisch aus der vor ihm liegenden Packung. Unverhofft bot er den beiden Frauen und dann Clasen ebenfalls etwas an. Während die beiden anderen ablehnten griff Clasen zu und bedankte sich. Er war froh über die kleine Ablenkung.
„Und? Schmeckt’s?“ Der Hauch eines Lächelns lag auf dem Gesicht des jungen Mannes.
Clasen nickte. Zwar konnte er den Geschmack nicht genau einordnen, doch das war ihm im Moment auch egal. Er genoss es einfach nur, dass seine kreisenden Gedanken eine kurze Pause machen konnten. Gleichzeitig stieg in ihm aber auch die Sehnsucht danach auf, endlich wieder selber kochen zu können. Er hatte immer schon leidenschaftlich gerne gekocht. Doch während seiner Haftzeit war es aus unterschiedlichen Gründen nie dazu gekommen, dass er in der Küche arbeiten durfte. Stattdessen wurde er in der Tischlerei eingesetzt. Hier hatte er allerdings einiges lernen können, was ihm für seine Pläne nach der Entlassung hilfreich sein könnte.
„Aus eigener Herstellung“, sagte der junge Mann. „Kochen Sie auch?“
„Ja, aber ich hatte in letzter Zeit keine Gelegenheit dazu.“
„Es ist schon etwas Feines, wenn man das Ergebnis seiner Arbeit auf diese Art und Weise genießen kann, nicht wahr?“
Clasen nickte. In Hamburg würde er seine Schwester darum bitten, mit ihm zusammen ein mehrgängiges Menü zuzubereiten. Sie war ebenfalls eine gute Köchin. Früher hatten sie oft zusammen in der Küche gestanden und gemeinsam für Freunde und Verwandte gekocht.
„Ich hoffe, dass ich bald mal wieder die Zeit dazu habe“, sagte er nach einer kurzen Pause.
„Das sollten Sie unbedingt tun. Ich bin übrigens in einem genialen Kochforum, in dem nur Männer als Mitglieder zugelassen werden. Dort tauschen wir dann Rezepte und Erfahrungen aus. Manchmal verabreden sich auch einige Mitglieder, um dann gemeinsam etwas zu kochen. Hier, das ist der Link dazu. Vielleicht treffen wir uns ja dort mal wieder.“
Während er das sagte, zog er aus einer seiner Hosentaschen einen kleinen Zettel hervor, auf dem bereits die Adresse der Webseite notiert war. Clasen bedankte sich und steckte das Stück Papier in die Brusttasche seines Hemdes. Dann wurde es wieder still im Abteil und sein innerer Kampf ging in die nächsten Runden.
Endlich erreichten sie Kassel, wo er gemeinsam mit der älteren Frau ausstieg. Bevor er aber seines Weges gehen konnte, hielt diese ihn kurz am Arm fest.
„Nun erst mal tief durchatmen, junger Mann“, sagte sie in einem strengen Tonfall. „Hier, nehmen Sie auch einen Schluck!“ Sie zog das kleine Fläschchen hervor und reichte es Clasen.
„Wie meinen Sie das?“, fragte dieser nervös, während er mit einer leichten Handbewegung das Angebot ablehnte.
„Na hören Sie mal – ich bin alt aber nicht blind! So, wie Sie dieses junge Ding gemustert haben … Nee, nee – in Ihrem Alter sollten Sie sich auf reifere Frauen konzentrieren. Alles andere geht doch nicht gut …“
Clasen war wie erstarrt. Es fühlte sich fast genauso an, wie damals bei seiner Verhaftung.
„Hier, die können Sie behalten“, fuhr die Alte fort und drückte ihm eine Tageszeitung in die Hand. „Ich habe sie mir vor der Fahrt gekauft und dann doch nicht gelesen. Jetzt brauche ich sie nicht mehr. Vielleicht steht da ja was drin, das Sie ablenkt. Zur Not nehmen Sie sich das Kreuzworträtsel vor.“
Kichernd steckte sie die Flasche wieder ein und verließ, ohne sich weiter umzudrehen, den Bahnsteig.
Eine Stunde später saß Clasen im Großraumabteil eines anderen ICEs. Inzwischen ging es ihm wieder etwas besser. Doch noch war die Anspannung nicht ganz gewichen. Gedankenverloren blätterte er in der Zeitung, die ihm die alte Frau geschenkt hatte. Doch dann blieb sein Blick plötzlich an einer der Überschriften hängen. „Deutschlands gefährlichster Serienmörder“ stand dort in dicken Lettern. Angespannt las er sich den dazugehörigen Artikel durch. So erfuhr er, dass der Gesuchte in den letzten drei Jahren schon mindestens acht Menschen getötet haben soll – alles Männer unterschiedlichen Alters. Während Clasens Opfer für immer verschwunden geblieben waren, ging dieser Täter anders vor. Er verteilte die Leichenteile in ganz Deutschland. Man hatte sogar schon menschliches Fleisch gefunden, das gebraten und Vakuum eingeschweißt worden war.
Schlagartig wusste Clasen nun, wonach das Stück Fleisch vorhin im Zug geschmeckt hatte. Er musste etwas unternehmen – und zwar schnell.
– Andreas Ballnus —
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ZUM AUTOR
Andreas Ballnus
Jahrgang ’63, Liedermacher und Autor. Außerdem ist er Gründungs- und Redaktionsmitglied der Stadtteilzeitung „BACKSTEIN“. Unter dem Nick „anbas“ hat er in dem Literaturforum „Leselupe.de“ eine Vielzahl seiner Texte veröffentlicht. Er lebt in Hamburg und verdient sein Geld als Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst. Weitere Informationen: andreasballnus.de.tl
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