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Recht & Steuern

Tarifvertrag, ein unbekanntes Wesen

Foto: MQ-Illustrations / Adobe Stock

Im Zuge der sich sehr lange hinziehenden Tarifverhandlungen stellt sich manchem die Frage, welchen Wert Tarifverträge haben und ob bzw. wie man sich gegebenenfalls von einer Tarifbindung wieder lösen kann – oder andersherum eine Tarifbindung eingehen kann.

Eine Tarifbindung kann kollektivrechtlicher Natur sein oder durch eine arbeitsvertragliche Vereinbarung herbeigeführt werden. Kollektivrechtlich heißt, dass ein Tarifvertrag durch beiderseitige Verbandszugehörigkeit gilt. Sowohl Arbeitgeberverband als auch Gewerkschaft schließen die Verträge nur für ihre jeweiligen Mitglieder ab. Bei Arbeitgeberverbänden besteht darüber hinaus auch noch die Besonderheit, dass eine Mitgliedschaft auch ausdrücklich ohne Tarifbindung möglich ist, die so genannte OT-Mitgliedschaft. Diese ist ausdrücklich zulässig, wenn in der Satzung sichergestellt wird, dass OT-Mitglieder keinerlei Einfluss auf die Tarifverhandlungen haben können. Der Tarifvertrag gilt aber auch dann nur, wenn der Arbeitgeber in den fachlichen Geltungsbereich des Tarifvertrages fällt. Ein reines Dienstleistungsunternehmen, welches Mitglied im AGA Unternehmensverband ist, würde nicht dem Tarifvertrag unterfallen, da dieser im fachlichen Geltungsbereich festlegt, dass der Tarifvertrag für die Unternehmen im Groß- und Außenhandel gilt. Ferner gibt es einen räumlichen Geltungsbereich, in dem ein Unternehmen seinen Sitz haben muss.

Alternativ gilt der Tarifvertrag, wenn dies arbeitsvertraglich vereinbart ist. Hierbei unterscheidet man je nach Formulierung zwischen statischer und dynamischer Verweisung, soll also auf einen bestimmten Tarifvertrag (statisch) oder auf den jeweils geltenden Tarifvertrag (dynamisch) verwiesen werden. Nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) gilt die Verweisungsklausel im Arbeitsvertrag unabhängig von der Frage, ob der Arbeitgeber tarifgebunden im Sinne der Mitgliedschaft des tarifschließenden Verbandes ist oder nicht. Dies wurde früher anders gesehen. Da entschied die Rechtsprechung, dass eine Klausel im Arbeitsvertrag als sogenannte Gleichstellungsabrede nur insoweit die vertragliche Tarifbindung herbeiführen konnte, solange der Arbeitgeber auch Mitglied des Verbandes war. Diese Rechtsprechung ist noch auf Altverträge, die vor dem 1. Januar 2002 abgeschlossen wurden, anwendbar.

Der Austritt aus der kollektivrechtlichen Bindung führt nicht automatisch zum Wegfall der Tarifbindung. Es ist hier die Nachbindung von der Nachwirkung zu unterscheiden. Tarifverträge, die zum Zeitpunkt des Austritts bzw. Wechsels in die OT-Mitgliedschaft ungekündigt waren, gelten im Rahmen der Nachwirkung fort, so als ob der Arbeitgeber noch im Verband wäre. Ein gekündigter Tarifvertrag wirkt dagegen nur nach und kann einzelvertraglich abgelöst werden. So wäre beispielsweise bei Wechsel in die OT-Mitgliedschaft der ungekündigte Rahmentarifvertrag des AGA weiterhin anwendbar, der gekündigte Lohn- und Gehaltstarifvertrag würde statisch bleiben, ein neuer Lohn- und Gehaltstarifvertrag, der erst nach Wechsel der Mitgliedschaft abgeschlossen wird, würde kollektivrechtlich keine Wirkung mehr entfalten, der Mitarbeiter also nicht an Lohnsteigerungen teilhaben. Ein nach Austritt abgeschlossener Tarifvertrag findet also keine Anwendung mehr, es sei denn im Arbeitsvertrag ist eine dynamische Verweisungsklausel enthalten. Denn diese Verweisung gilt, wie gesagt, unabhängig von der jeweiligen Mitgliedschaft des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers in den entsprechenden Organisationen. Gibt es eine rein vertragliche Anbindung an den Tarifvertrag, so kann diese auch durch eine Vertragsänderung beseitigt werden. Dafür ist allerdings die Zustimmung der Mitarbeiter erforderlich. Eine Änderungskündigung, gerichtet auf den Wegfall der Verweisungsklausel dürfte dagegen wenig Aussicht auf Erfolg haben.

Schließlich kann sich die kollektivrechtliche Tarifbindung auch durch einen Wechsel des Tarifvertrages ändern. Dies wäre der Fall, wenn sich die Branchenzugehörigkeit verändert, beispielsweise von bisher überwiegendem Großhandel zum Einzelhandel. Würde der Arbeitgeber dann den Verband wechseln, würde zukünftig der Einzelhandelstarifvertrag bei Gewerkschaftsmitgliedern gelten, da jeweils Verdi der Verhandlungspartner ist. Gelten parallel zwei Tarifverträge, beispielsweise ein Haustarifvertrag und ein Branchentarifvertrag, richtet sich die kollektivrechtliche Anwendung nach dem Grundsatz der Spezialität. Anwendbar wäre der speziellere Tarifvertrag, meist der Haustarifvertrag, allerdings nur solange dieser nicht gekündigt ist. Ein gültiger Flächentarifvertrag wäre gegenüber einem nur nachwirkenden Haustarifvertrag dann wieder der speziellere.

Schließlich kann sich die Tarifbindung auch durch die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit durch die jeweils zuständige Arbeitsbehörde ergeben, wenn die Voraussetzungen für diesen staatlichen Akt erfüllt sind. Dann gilt der Tarifvertrag völlig losgelöst von Mitgliedschaften oder vertraglichen Vereinbarungen der Arbeitsvertragsparteien.

— Volker Hepke —

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ZUM AUTOR

Rechtsanwalt Volker Hepke, Geschäftsführer Recht & Tarife
AGA Norddeutscher Unternehmensverband
Großhandel, Außenhandel, Dienstleistung e.V.
Im AGA sind mehr als 3.500 überwiegend mittelständische Groß- und Außenhändler sowie unternehmensnahe Dienstleister aus Norddeutschland organisiert. Der AGA unterstützt in Unternehmens- und Personalführung sowie in allen arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Fragen. Ferner vertritt der AGA die branchen- und firmenspezifischen Belange seiner Mitglieder gegenüber Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit. www.aga.de

Bildquellen

  • Volker Hepke: Ulrich Perrey / AGA Unternehmensverband
  • Tarifverträge: MQ-Illustrations / Adobe Stock
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