„Oh bitte, nicht schon wieder…!“, dachte Simon.
Vor ihm auf der Arbeitsplatte seiner Küche standen zwei gut gefüllte Suppenteller. An sich stellen ja zwei gefüllte Teller kein Problem dar. Blöd ist es nur, wenn sich niemand anderes in der Wohnung befindet, man niemanden erwartet, und man das Essen nur für sich alleine gemacht hatte.
Simon galt bei denen, die ihn kannten, als ein etwas merkwürdiger Kauz – absolut liebenswert, aber auch ziemlich versponnen. Häufig war er mit seinen Gedanken in anderen Welten unterwegs und bekam dann kaum etwas vom realen Leben mit. So führte er immer mal wieder Selbstgespräche, trieb in Tagträumen durch den Alltag, oder folgte einem plötzlichen Impuls, der ihn alles andere vergessen ließ, was er eigentlich tun wollte oder gerade eben erst begonnen hatte.
Gelegentlich war er derart tief in seinen Tagträumen versunken, dass diese sein Handeln in der realen Welt beeinflussten. Und genau das war auch jetzt geschehen. Während er für sich etwas zu Essen zubereitet hatte, war er gedanklich bei Rita gewesen, die er heimlich verehrte. Er hatte sich vorgestellt, dass sie bei ihm zu Besuch wäre und er für sie beide kochen würde. So hatte er nun die doppelte Menge an Suppe zubereitet und wollte Rita gerade ihren Teller an den Tisch bringen. – Zum Glück war im Tiefkühlschrank noch genügend Platz.
Schon als Kind war er oft in seinen inneren Welten unterwegs gewesen. Über Jahre hinweg sah er sich in seiner Fantasie als exzellenten Schüler und erlebte großartige Abenteuer. Er konnte aber auch stundenlang auf einer Wiese liegen, den Wolken bei ihren Wanderungen am Himmel zusehen oder seine Gedanken einfach so treiben lassen. Vor lauter Träumereien vernachlässigte er dann die Hausaufgaben und hatte große Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen. Insgesamt glänzte er nur in den kreativen Fächern.
Die schlechten Schulnoten ließen ihn nur kurzfristig in der Realität landen. Schon wenig später war er dann aber wieder ein Wunderkind, das eine unglaubliche akademische Laufbahn vor sich hatte. Je häufiger ihn das wahre Leben wieder einholte, er von anderen Kindern verspottet wurde und Schwierigkeiten wegen der schulischen Leistungen bekam, umso mehr driftete er in seine Traumwelten ab, die immer größer und umfangreicher wurden. Er sah sich von zu Hause fortlaufen, ins Ausland gehen und dort Kariere machen, um dann als wohlhabender Mann zurückzukehren. All jene, die ihn früher geärgert, gemobbt oder sonst irgendwie das Leben schwer gemacht hatten, würden ihn nun voller Neid betrachten und vielleicht sogar bewundern. Ja, bei einigen von ihnen würde er auch bittere Rache nehmen – so, wie der Graf von Monte Cristo, der sein absoluter Lieblingsroman war.
Später, als junger Mann, träumte er dann häufiger von einem Lebenslauf, für den man eigentlich mehrere Leben gebraucht hätte. Natürlich war er auch hier ein schulisches Wunderkind. Doch zusätzlich wurde er aufgrund seines überragenden fußballerischen Talents zum Weltstar – mal sah er sich als herausragenden Torwart, dann als genialen Spielmacher und dann wieder als einen mit allen Wassern gewaschenen Stürmer.
Nach seiner aktiven Sportlerzeit startete er dann als Rocksänger im Musikgeschäft durch – international natürlich. Nebenbei spielte er auch noch in mehreren erfolgreichen Filmen mit und schrieb einige Bestseller.
Nachdem er über Jahre hinweg weltweit große Erfolge gehabt hatte, ging er dann in die Politik, wo er ebenfalls zu hohem Ansehen gelangte. Er wurde Kanzler, und es gelang ihm, mehrere, auch internationale Krisen zu meistern sowie das eigene Land wohlhabender, aber auch sozialer und gerechter zu gestalten.
Während dieser ganzen Erfolgslaufbahn blieb er sehr bodenständig und volksnah mit einem großen sozialen Gewissen. Er gründete einige Stiftungen, spendete regelmäßig große Summen Geld und unterstütze diverse gemeinnützige Projekte und Organisationen.
Simon nahm sich und diese Träumereien aber nur sehr bedingt ernst. Ihm war schon bewusst, wo er in seinem Leben gerade stand – aber gleichzeitig wünschte er sich, wenigstens einen Bruchteil von dem zu erreichen, von dem er so oft träumte.
Die meisten Menschen in seinem Umfeld hatten sich daran gewöhnt, dass er hin und wieder geistig abwesend war oder sich merkwürdig verhielt. Wenn sie ihn dann aus seiner Gedankenwelt zurückholten, lächelte er meistens verlegen. Aber er war auch durchaus in der Lage, über sich selber zu lachen.
Doch dann gab es immer mal wieder Situationen, die ihm noch Jahre später höchst peinlich waren. So, wie vor etwa zwei Wochen, als er mit dem Bus in der Stadt unterwegs gewesen war. Plötzlich begann sich in seinem Kopf ein Actionfilm abzuspielen. Er war auf der Flucht vor feindlichen Agenten und versuchte gerade unauffällig mit dem Bus die Stadt zu verlassen. Doch er war entdeckt worden. Ein Wagen mit schwerbewaffneten Killern holte ihn ein, um ihn abzuknallen. Als sie das Feuer eröffneten, brüllte er „In Deckung!“ und warf sich auf den Boden des Busses. – Die Zeit bis zur nächsten Haltestelle erschien ihm wie eine Ewigkeit. Mit gesenktem hochrotem Kopf stand er an der Tür, und die Frage einer älteren Dame, ob er Hilfe benötigen würde, beantwortete er mit einem verschämten Kopfschütteln. Fluchtartig verließ er dann den Bus und ging die letzten zwei Kilometer durch strömenden Regen zu Fuß weiter.
Während er wegen dieser Sache auch jetzt noch am liebsten vor Scham im Boden versunken wäre, konnte er hier in seiner Küche nach dem ersten Überraschungsmoment über sich selber grinsen. Er aß beide Teller leer, füllte den Rest der noch warmen Suppe in eine Frischhaltebox, um sie später in den Tiefkühlschrank zu stellen, und ging dann in sein Atelier. Dort nahm er sich einen Block und zeichnete mit schnellen Strichen einen Cartoon. Auf ihm war ein großer Tisch abgebildet, an dem mindestens zwanzig Leute Platz hätten. Es war aber nur eine Person zu sehen, die am Kopfende der Tafel saß und das Glas zum Anstoßen erhoben hatte. Ihr gegenüber auf der anderen Stirnseite befanden sich nur ein leerer Stuhl und ein einzelner Teller. Darunter schrieb er „Mein persönliches Dinner for one“.
Anschließend blätterte er den Block flüchtig durch. Er enthielt ausschließlich Cartoons, die das Zubereiten von zu großen Mengen an Speisen zum Thema hatten.
Trotz ihrer gelegentlichen Schattenseiten waren diese Tagträume auch Quelle und Inspiration für Simons Kunst. Mit Gemälden, Zeichnungen und eben auch Cartoons hatte er sich auf regionaler Ebene schon einen Namen machen können. Derzeit stellte er gerade einige seiner Werke für eine Ausstellung in der Landeshauptstadt zusammen. Auf ihr durften sich junge und bisher noch nicht so bekannte Künstler vorstellen.
In seiner Traumwelt war er natürlich schon längst ein umjubelter Star der Kunstszene. Die Realität sah allerdings so aus, dass er von seiner Malerei alleine noch nicht leben konnte. Daher arbeitete er nebenbei für mehrere Stunden in der Woche in einem Bistro. Auch hier geschah es immer mal wieder, dass sich seine innere Welt von der äußeren verabschiedete. Erst am letzten Wochenende war er mit zwei Gläsern Rotwein zu dem Tisch eines jungen Mannes gegangen. Dieser saß aber alleine da und war auch mit niemand verabredet – im Gegensatz zu dem, was Simon in seinem inneren Film gesehen hatte.
Den Rest des Tages arbeitete er an seinem neuen Werk weiter. Das überdimensional große Gemälde zeigte das Rathaus und den Marktplatz der Stadt. Beide waren von Pflanzen überwuchert, Bäume wuchsen aus einigen Fenstern heraus, und aus einer der Dachluken ergoss sich ein kleiner Wasserfall, der einen Teil des Marktplatzes überschwemmte, um dann in einem Gully zu versickern. Mitten im Wasser standen mehrere sehr adrett angezogene Männer und Frauen. Einige von ihnen lasen Zeitung, andere telefonierten oder unterhielten sich. Und dann war da noch eine Gruppe von Menschen in altmodischer Sportkleidung, die gymnastische Übungen machte.
„Toben Sie sich ruhig aus!“, hatte der Bürgermeister verschmitzt grinsend gesagt, als er Simon das Gemälde in Auftrag gegeben hatte. Es sollte später mal das Foyer des Rathauses zieren. Schon seit vielen Jahrzehnten gehörte es zur Tradition der Stadt, dass der jeweils amtierende Bürgermeister einen einheimischen Künstler damit beauftragte, ein Kunstwerk für das Rathaus anzufertigen. Dieses wurde dann nach seiner Amtszeit entfernt und für einen wohltätigen Zweck versteigert.
Für Simon war das natürlich eine große Ehre – und vielleicht auch ein wichtiger Schritt zu seinem Weltruhm.
Am späten Nachmittag machte er sich auf den Weg zu Gunnar, einem seiner besten Kumpel. Gunnar war Antiquitätenhändler und ein einziger Widerspruch auf zwei Beinen. So trug er überwiegend teilweise schon leicht verschlissene Kleidung aus Second-Hand-Läden, war oft sehr fahrig, und sein Laden wirkte wie das Lager eines Sperrmüllsammlers, der schon lange aufgegeben hatte, irgendein System oder eine Ordnung einzuhalten.
Andererseits gab er viel Geld für Friseur, Nagelpflege und gelegentliche Wellnesswochenenden aus. Zudem konnte er extrem pedantisch und ein manchmal kaum zu ertragender Moralist sein. Seine Wohnung sah – im Gegensatz zu seinem Geschäft – so aus, als wäre sie von einem modernen Innenarchitekten mit einer besonderen Vorliebe für puren Minimalismus eingerichtet worden.
Gunnar und Simon waren in gewisser Weise zwei schräge Vögel, die sich gefunden hatten. Jeder konnte die Macken des anderen gut ertragen, sowie auch die kleinen gegenseitigen Sticheleien.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle musste Simon eine Unterführung nutzen, die unter der sechsspurigen Stadtautobahn hindurchführte. Es gab eine Treppe sowie einen stufenlosen Zugang. Wegen Bauarbeiten war dieser aber gesperrt. Während Rollstuhlfahren nichts anderes übrig blieb, als einen größeren Umweg zu nehmen, trugen Radfahrer meistens ihre Räder die gut zwanzig Stufen hinunter. Eltern, die mit einem Kinderwagen unterwegs waren, sowie ältere Menschen mit ihrem Trolley, quälten sich meistens ebenfalls die Stufen ab.
Als Simon sich der Unterführung näherte, erblickte er eine junge Frau mit Kinderkarre, die auf dem Weg dorthin war. Sie ging ungefähr zwanzig Meter vor ihm. Weit und breit war kein anderer Mensch zu sehen.
Simon verlangsamte seinen Schritt. Wenn die Frau ihn erblicken sollte, würde sie ihn sicherlich darum bitten, ihr dabei zu helfen, die Karre die Treppe hinunterzutragen. Dieser Bitte könnte er sich dann kaum entziehen. Dabei hatte er bereits seit einigen Tagen immer wieder mal Rückenschmerzen. Der Termin beim Orthopäden war schon festgemacht. Simon wusste, dass er in Situationen wie dieser niemals „Nein“ sagen könnte. Doch damit würde er nicht nur seine Gesundheit aufs Spiel setzen, sondern auch die des Kindes. – Was wäre, wenn er mitten auf der Treppe plötzlich wieder solch einen stechenden Schmerz im Rücken bekäme oder aus Unachtsamkeit stolpern würde? Es wäre ja außerdem auch möglich, dass ihm der Wagen einfach so aus der Hand rutschen könnte. Vor seinem inneren Auge sah er schon sich und die Karre zusammen mit dem Kind die Stufen hinunterstürzen, hörte die Mutter schreien und erahnte die bösen Folgen für alle Beteiligten.
Simon blieb stehen. Nein, er wollte auf gar keinen Fall solch ein Unglück verursachen. Außerdem würde der Hinweis auf seinen kranken Rücken sicherlich wie eine faule Ausrede wirken. Daher drehte er sich um und ging ein Stück zurück. Dort nahm er auf einer Bank Platz und gönnte sich eine Zigarette.
Nach etwa zehn Minuten ging er erneut zu der Unterführung. Die Frau mit dem Kinderwagen war verschwunden. Sie lag auch nicht schwerverletzt am Ende der Treppe, so wie er es sich in einer anderen Fantasie ausgemalt hatte. Simon setzte daraufhin seinen Weg fort, haderte aber mit sich selber, dass er aufgrund dieser diffusen Gedanken der Frau nicht geholfen hatte.
Nach einem Blick auf die Uhr setzte er, trotz der Gefahr von neuen Rückenschmerzen, zu einem kurzen Sprint an, um den Bus noch zu bekommen. Dessen Türen schlossen sich gerade als er ihn erreichte, wurden aber für ihn noch einmal geöffnet. Normalerweise hetzte er sich in solchen Fällen nicht ab, aber diese Linie fuhr nur alle zwanzig Minuten, und er hatte heute wirklich keine Lust darauf, unnötig lange zu warten.
Als er einstieg, musterte ihn der Fahrer sehr kritisch. Es war derselbe, der vor vierzehn Tagen den Bus gefahren hatte, als er vor dem vermeintlichen Kugelhagel in Deckung gegangen war. Simon setzte sich verlegen auf einen der wenigen noch freien Plätze. Er war sich sicher, dass der Fahrer ihn durch den Spiegel beobachtete. Was wäre, wenn er jetzt die Polizei oder irgendwelche psychiatrischen Einrichtungen benachrichtigen würde?
Bevor sich Simon weiter in diese Gedanken hineinsteigern konnte, entdeckte er in der Mitte des Busses die Frau mit der Kinderkarre. Ihre Blicke trafen sich kurz, und ein neuer Film spulte sich in seinem Kopf ab. Diesmal war es eine Liebesgeschichte. Er würde sie ansprechen. Sie kämen sich schnell näher. Die Frau, die ganz bestimmt ‚Marlene‘ hieß, würde seinetwegen ihren Mann verlassen, und beide hätten fortan ein glückliches Leben. – An Rita, seine heimliche Liebe, dachte er in diesem Moment nicht.
„Geht es Ihnen besser?“, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich. Es war die ältere Dame, die ihn vor zwei Wochen im Bus gefragt hatte, ob er Hilfe benötigen würde.
„Ja danke, es ist wieder alles gut. Ich hatte meine Medikamente vergessen. Dann bekomme ich manchmal solch merkwürdige Anfälle“, log Simon und bemerkte, dass Marlene, also seine zukünftige Marlene, alles mitgehört hatte. Schlagartig änderte sich das Drehbuch des eben noch so wunderbar verlaufenden Liebesfilmes – jetzt war es ein Drama ohne Happy-End.
Eine halbe Stunde später saß er bei Gunnar im Wohnzimmer.
„Na du Spinner – alles gut bei dir?“, hatte dieser ihn begrüßt, um dann sofort darauf hinzuweisen, dass Simon doch bitte seine Schuhe schon im Treppenhaus ausziehen möge.
„Schön, dass du Zwangsneurotiker Zeit hast“, hatte Simon daraufhin grinsend geantwortet.
Während sich Gunnar in der Küche um Wein und Knabberkram kümmerte, ließ Simon den Blick durch das fast schon steril wirkende Wohnzimmer gleiten. Er erblickte eine Grafik, die sich Gunnar wohl neu angeschafft hatte. Dieser kaufte sich hin und wieder Bilder und Kunstobjekte von namhaften Künstlern. Dabei achtete er penibel darauf, dass die Werke zu seiner Einrichtung passten. Auch war es ihm wichtig, dass die einzelnen Werke genügend Platz hatten, um ihre Wirkung zu entfalten. Daher verkaufte er jedes Mal eines seiner Kunstwerke, sobald er sich etwas Neues anschaffte. Von Simon hatte er bisher noch nie ein Bild gekauft, was dieser durchaus registrierte – aber noch war er ja auch kein namhafter Künstler.
„Wer wohl die Sachen bekommt, wenn Gunnar mal stirbt?“, schoss es ihm auf einmal durch den Kopf. Schließlich hatte dieser keine Verwandten an die er etwas vererben könnte.
„Mir würde das eine oder andere schon gefallen“, ging Simons Gedankenspiel weiter. „Aber um ihn überhaupt beerben zu können, müsste ich ihn dazu bringen, mich als Erben einzusetzen. Und dann müsste er möglichst bald sterben, schließlich will ich nicht ewig warten … Das könnte schwierig werden, der Tod müsste wie ein Unfall aussehen. Doch einen Versuch wäre es wert.“
„Was hast du gesagt?“, rief Gunnar aus der Küche.
„Ach nichts – war nur wieder mal eines meiner Selbstgespräche“, antwortete Simon. – Mist, er musste vorsichtiger sein. Dann grinste er über sich selber. Dieser Film war schon recht makaber. Aber es war ja nur wieder eines seiner Gedankenspiele. Noch nie hatte er Fantasien dieser Art in die Tat umgesetzt – bis jetzt jedenfalls nicht.
– Andreas Ballnus —
_________________________
ZUM AUTOR
Andreas Ballnus
Jahrgang ’63, Liedermacher und Autor. Unter dem Nick „anbas“ hat er in dem Literaturforum „Leselupe.de“ eine Vielzahl seiner Texte veröffentlicht. Er lebt in Hamburg und verdient sein Geld als Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst. Weitere Informationen: andreasballnus.de.tl
_________________________
DAS KÖNNTE SIE AUCH INTERESSIEREN
Bildquellen
- Andreas Ballnus: Sebastian Lindau
- Tagträumen: Albrecht Fietz / Pixabay.com