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Kolumne „Kann passieren …“ – Irgendwo im Irgendwo

Wieder einmal hatte unser Autor Andreas Ballnus einen unfreiwilligen Aufenthalt in einem ihm unbekannten Bahnhof. Und genauso wie einst in Treuchtlingen entstand auch diesmal ein Text über das ungewollte Warten auf einen Zug.

Foto: Randy Jacob / Unsplash.com

Beinah hätte ich ja den Bahnhof von Nottuln-Appelhülsen kennengelernt. Doch nun stehe ich bei feucht-kühlem Wetter auf dem Bahnsteig der Station von Dülmen. Auf den ersten Blick hin scheint dies kein großer Unterschied zu sein, wobei ich von Nottuln-Appelhülsen noch nie irgendetwas gesehen habe. Also wirklich so rein gar nichts – nicht einmal den Namen habe ich vorher je gesehen oder gelesen. In Dülmen kenne ich dagegen ab sofort zumindest den Bahnhof. Vorher allerdings ging es mir mit Dülmen genauso wie mit Nottuln-Appelhülsen. Ich hatte von beiden noch nie etwas gehört.

Somit kann ich also im Grunde gar nicht sagen, ob es irgendwelche gravierenden Unterschiede zwischen den beiden Orten gibt, und welche dies sind. Ich gehe aber davon aus, dass mir deren Bewohner dies ganz genau darlegen könnten, wenn ich denn fragen würde. Doch im Augenblick ist mir nicht danach, mich bei irgendjemand hierüber zu informieren.

Ich bin also in Dülmen – gestrandet Dank der Deutschen Bahn und eines freundlichen Fahrgastes. Auf ihn werde ich später noch einmal zu sprechen kommen.

Ich muss an Treuchtlingen denken. Auch dort verbrachte ich unfreiwillig einige Zeit im und am Bahnhof. Nur war damals das Wetter besser, und ich musste länger auf meinen Anschlusszug warten als hier in Dülmen. Dadurch hatte ich die Zeit gehabt, mich in der näheren Umgebung des Bahnhofs umzuschauen.

Übrigens ist aus diesem Aufenthalt in Treuchtlingen auch ein Text von mir entstanden. Der unfreiwillige Aufenthalt in irgendwelchen Bahnhöfen scheint bei mir eine kreative Ader zu wecken. Dennoch möchte ich nicht so oft irgendwo im Irgendwo stranden.

Heute ist das Wetter höchst bescheiden. Die unangenehm kühle Luft hat einen sehr hohen Feuchtigkeitsfaktor und scheint nur darauf zu warten, jeden Moment von einem unangenehmen Nieselregen durchtränkt zu werden. Kurz vor meiner Ankunft hat es wohl stärker geregnet. Alles um mich herum ist nass. Selbst, wenn es hier eine Bank gäbe, wäre sie vermutlich zu feucht, als dass ich mich auf sie gesetzt hätte. Doch das ist nicht schlimm. Im Gegensatz zu damals in Treuchtlingen, wo ich etwa 45 Minuten Wartezeit hatte, soll mein Anschlusszug hier und heute in etwa 10 bis 15 Minuten eintreffen. Solange kommt auch eine übergewichtige Couchpotato wie ich ohne Sitzmöglichkeit klar.

Gestern am Sonntag war ich von Hamburg nach Recklinghausen gefahren. Eine wichtige Familienangelegenheit, für die meine beiden Geschwister und ich aus den verschiedensten Ecken Deutschlands angereist waren. Im Gegensatz zu mir hatten sie sich jeweils für eine Fahrt mit dem Auto entschieden – wobei ich keine großen Entscheidungsmöglichkeiten hatte, da ich nie einen Führerschein gemacht habe. Heute am Montag konnten wir dann bis Mittag alles erledigen – deutlich früher, als ich gedacht hatte. Und entgegen meiner stillen Hoffnung mussten meine Geschwister leider relativ schnell wieder zurück nach Hause fahren, so dass wir uns nicht zu einem kleinen Mittagsimbiss zusammensetzen konnten.

Daher hatte ich nun also mehr Zeit als erwartet. Meine planmäßige Abfahrt war erst in etwa zweieinhalb Stunden. Ich musste mir also überlegen, wie ich diese Wartezeit herumbekam.

Nun will ich ja nichts gegen Recklinghausen sagen, aber bei schlechtem Wetter kann die Zeit dort sehr lang werden, wenn man nicht zweieinhalb Stunden alleine in einem Café, Restaurant oder Museum verbringen möchte. An einem Museumsbesuch hätte ich eh kein Interesse gehabt, weshalb ich nicht einmal weiß, ob es in Recklinghausen überhaupt ein interessantes Museum gibt – sonst hätte ich mich natürlich entsprechend erkundigt.

Vor diesem Hintergrund änderte ich meinen Plan. Auf meiner Rückfahrt musste ich in Münster umsteigen, und erst ab da hatte ich eine Platzreservierung. Die Fahrt von Recklinghausen dorthin war ohne feste Zugbindung. Daher beschloss ich, schon früher zu fahren, um mir die Stadt ein wenig anzusehen. Dies kam mir insofern gelegen, da ein Tagesausflug nach Münster schon lange auf meiner „Was-ich-irgendwann-mal-tun-möchte-Liste“ stand. Und somit war es für mich durchaus vorteilhafter, bei schlechtem Wetter durch Münster zu streifen als durch Recklinghausen.

Und so saß ich kurze Zeit später in der Regionalbahn nach Münster. Zuvor war mir die Situation auf dem Bahnhof in Recklinghausen etwas merkwürdig vorgekommen. An der Anzeige war ein Zug angegeben, der bereits vor 45 Minuten hätte abfahren sollen. Auch er hatte Münster als Ziel. Eine Lautsprecheransage, die irgendwann über den trüben Bahnsteig grellte, war etwas unverständlich gewesen, doch das Wort „Verspätung“ hatte ich deutlich herausgehört.

Auch mein Zug war nicht pünktlich. Nach etwa zehn Minuten traf dann die Regionalbahn ein. Sie war nur mäßig gefüllt, und ich fand gleich einen freien Sitzplatz. Während der weiteren Fahrt schaute ich aus dem Fenster und hing meinen Gedanken nach.

Dann kam die Durchsage, die mich unangenehm aus meiner Ruhe katapultierte. Der Zugführer teilte mit, dass der Zug aufgrund der erheblichen Verspätung nicht bis Münster durchfahren würde, sondern nur bis Nottuln-Appelhülsen. Wer nach Münster wollte, sollte dort aussteigen und auf den nächsten Zug warten.

Wie sich nun herausstellte, saß ich in der Bahn, die eigentlich schon vor 45 Minuten in Recklinghausen hätte sein sollen. Der Zug, mit dem ich eigentlich fahren wollte, fuhr aufgrund seiner Verspätung kurz hinter uns.

Ich stellte mich also darauf ein, in einer Bahnstation mit dem etwas unhandlichen Namen „Nottuln-Appelhülsen“ umzusteigen. Doch aus diesem Vorhaben wurde nichts.

Wie gesagt, ich stehe jetzt auf dem nassen Bahnsteig von Dülmen. Es ist feucht und kalt, und ich ärgere mich, dass ich keinen Pullover eingepackt habe. Ich hatte beim Packen ganz bewusst auf ihn verzichtet. Schließlich war es ja nur ein Kurztrip Hamburg – Recklinghausen und wieder zurück. Die meiste Zeit würde ich in der Bahn, im Hotel oder während des Termins in einem Büro verbringen. Außerdem lästern meine Geschwister sowieso ständig, dass ich viel zu viel einpacke, wenn ich unterwegs bin. Ja, und das habe ich nun davon, dass ich dieser Lästerei entgehen wollte und unter anderem nun diesen so wichtigen Pullover nicht eingepackt habe. Sicher, den Tod werde ich mir deshalb nicht holen, aber dafür befindet sich meine Laune an einem feucht-kalten Tiefpunkt. Okay, das ist besser als der Tod, aber blöd ist es trotzdem.

Doch zurück zu Nottuln-Appelhülsen und warum ich nicht dort, sondern in Dülmen auf dem Bahnsteig stehe. Kurz nachdem der Zugführer das vorzeitige Ende unserer Fahrt verkündet hatte, schnappte ich ein Gespräch zwischen zwei anderen Fahrgästen auf. Ein älterer Herr, der diese Strecke gut zu kennen schien, erklärte einer Dame mittleren Alters, die wohl ebenso wie ich ortsfremd war, dass es besser wäre, schon in Dülmen auszusteigen. Der Grund hierfür wäre, dass nicht jede Regionalbahn in Nottuln-Appelhülsen halten würde. Dort müsste man vermutlich eine gute Stunde auf den nächsten Zug nach Münster warten, während wir in Dülmen relativ schnell einen Anschluss bekämen.

Nun stehe ich also hier in Dülmen auf dem Bahnsteig bei feucht-kaltem Wetter und werde gleich nach Münster weiterfahren. Dort habe ich dann knapp zwei Stunden Zeit, um mir die Stadt anzusehen. Das ist zwar kein richtiger Tagesausflug, aber immerhin war ich dann schon mal in Münster.

Doch während ich hier warte, frage ich mich, ob es wirklich eine so gute Entscheidung gewesen war, in Dülmen aus dem Zug zu steigen. Wäre ich nach Nottuln-Appelhülsen gefahren, so hätte ich dort etwa eine Stunde zur Verfügung gehabt, um mir den Ort etwas näher anzusehen, und ich hätte sagen können, dass ich mal in Nottuln-Appelhülsen gewesen bin. Und wer weiß, was ich dort erlebt hätte. Vielleicht wäre mir die Frau meines Lebens über den Weg gelaufen, die nun nicht mehr die Möglichkeit hat, mit mir in Hamburg glücklich zu werden. Ja klar: In Hamburg! Es mag arrogant klingen, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, irgendwann mal in einem Ort namens Nottuln-Appelhülsen zu leben – Dülmen würde ja noch gehen, aber nicht Nottuln-Appelhülsen.

Allerdings hätte es auch sein können, dass ich bereits nach wenigen Minuten alles gesehen hätte, was dort von Interesse ist. Dann wäre die Wartezeit auf meinen Zug eine sehr lange Stunde geworden.

So kann ich jetzt nur sagen, dass ich aufgrund einer Verspätung der Deutschen Bahn und Dank des Hinweises eines anderen, mir nicht näher bekannten, Fahrgastes in Dülmen bei Nässe und Kälte gut fünfzehn Minuten lang auf dem Bahnsteig verbracht habe.

Und wie so oft in meinem Leben habe ich eine Entscheidung getroffen, von der ich nicht weiß, ob es die richtige gewesen ist.

 

– Andreas Ballnus —

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ZUM AUTOR

Andreas Ballnus
Jahrgang ’63, Liedermacher und Autor.  Unter dem Nick „anbas“ hat er in dem Literaturforum „Leselupe.de“ eine Vielzahl seiner Texte veröffentlicht. Er lebt in Hamburg und verdient sein Geld als Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst. Weitere Informationen: andreasballnus.de.tl

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Andreas Ballnus erzählt in seiner Kolumne „Kann passieren“ reale Begebenheiten, fiktive Alltagsgeschichten und manchmal eine Mischung aus beidem. Diese sind wie das Leben: mal humorvoll, mal nachdenklich. Die Geschichten erscheinen jeweils am letzten Freitag eines Monats in business-on.de.

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