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Kolumne „Kann passieren …“ – Mein kleiner Rucksack und ich

Es gibt viele Dinge, über die man sich im Alltag aufregen kann. Man kann, muss es aber nicht. Doch nur wenige Menschen sind mit dem Talent gesegnet, solchen Situationen trotz allem freundlich oder sogar humorvoll zu begegnen. Auch unser Autor Andreas Ballnus, wünscht sich häufiger mal, dass er auf diese Art und Weise reagiert, anstatt sich aufzuregen oder schockerstarrt zu schweigen. In seiner aktuellen Geschichte lässt er seinen Protagonisten das ausleben, was er selbst eher nicht zustande bringt.

Foto: PHUOC LE / unsplash.com/de

Die warme Oktobersonne hatte mich dazu überredet, meinen freien Tag doch nicht nur im Pyjama zu verbringen – jedenfalls nicht den ganzen Tag. Also kam es zu einer Planänderung, die dazu führte, dass ich nun mit der U-Bahn auf dem Weg in die Innenstadt war. Dort wollte ich es mir den Nachmittag über so richtig gut gehen lassen. Zunächst würde ich in meinem Stammcafé bei einem Cappuccino die Tageszeitung lesen. Vielleicht kam auch noch ein Stück Kuchen hinzu. Doch das würde sich erst entscheiden, wenn ich vor der Vitrine mit dem Gebäck stand. Na ja, eigentlich war die Entscheidung bereits gefallen, denn bei einem Cappuccino und der Tageszeitung darf im Grunde nie etwas Süßes fehlen. Die Frage war eher, welche Art von Kuchen es sein wird – wobei die Kekse dort auch nicht schlecht waren.

Wie ich mich kannte, würde ich sicherlich ein bis zwei Stunden im Café sitzen und es wahrscheinlich auch nicht nur bei einem Cappuccino und einem Stück Kuchen belassen. Danach hatte ich vor, noch etwas durch die Stadt zu bummeln. Kaufen wollte ich eigentlich nichts – aber man kann ja nie wissen … Für den Abend hatte ich mir zwei Optionen überlegt: Entweder beim Italiener meines Vertrauens essen gehen oder zu Hause wieder in den Pyjama schlüpfen, mich auf dem Sofa vor dem Fernseher hinflegeln und mir eine Pizza vorbeibringen lassen.

Wie immer, wenn ich unterwegs war, hatte ich meinen kleinen Rucksack dabei. Na gut, ‚klein‘ ist relativ. Er war schon groß genug, um darin ein paar Einkäufe zu verstauen. Wie gesagt, man weiß ja nie … Den Rucksack hatte ich neben mich gelegt. Im Moment waren noch genügend Plätze um mich herum frei, so dass ich niemandem eine Sitzgelegenheit wegnahm. Entspannt ließ ich meine Gedanken treiben. Ja, es war eine gute Idee gewesen, mich aus dem Haus zu begeben.

Mir gegenüber saß ein älteres Ehepaar. Sie unterhielten sich über irgendjemanden, der wohl einen Unfall gehabt hatte. „Es war doch nur eine Frage der Zeit, wann es soweit kommen würde – bei diesem Fahrstil!“, sagte die Frau. In ihrer Stimme schwang deutlich ein gehöriges Maß an Ärger mit. Sie presste ihre an sich schon schmalen Lippen fest zusammen und schüttelte den Kopf. Ihr hageres Gesicht mit den streng nach hinten gekämmten und zu einem Dutt zusammengesteckten Haaren gaben ihr einen durchaus respekteinflößenden Ausdruck. „Aber es war doch gar nicht seine Schuld“, antwortete ihr Mann, ein hochgewachsener korpulenter Herr, und schaute sie sie lächelnd an.
„Das ist doch egal. Wer so fährt, der fordert nun mal sein Schicksal heraus“, entgegnete sie verärgert ohne ihn anzusehen. „Na, wenn du meinst …“ Der Mann schien kein größeres Interesse daran zu haben, die Sache weiter auszudiskutieren. Dann schwiegen die beiden. Schade, denn ich höre gerne den Gesprächen anderer Leute zu. Sie können teilweise sehr unterhaltsam, manchmal sogar höchst interessant und lehrreich sein.

„Muss der Rucksack dort liegen?“ Die harsche Stimme, die mich aus meinen Gedanken riss, gehörte zu einem Mann, der ungefähr im Alter der mir gegenübersitzenden Herrschaften war. Er stand im Gang neben meinem Sitz und schaute mich streng an. Mit einem kurzen Blick stellte ich fest, dass es noch immer genügend freie Plätze in dem Abteil gab. Es bestand also kein Grund, sich genau hier hinsetzen zu müssen – und erst recht nicht, solch einen Ton anzuschlagen.

Ein Hauch von Unmut stieg in mir auf, doch ich wollte mir auf keinen Fall meine gute Laune verderben lassen. Also ging ich kurz ein paarmal in die tiefe Bauchatmung, so, wie ich es auf meiner letzten Reha gelernt hatte. Wie erhofft, fand ich dadurch wieder zu meiner entspannte Grundstimmung zurück. „Ich denke nicht“, antwortete ich und fragte betont freundlich, ob er hier sitzen wolle. „Natürlich, sonst würde ich ja wohl nicht fragen“, entgegnete er schroff.

Merkwürdig – der Mann sah so unscheinbar aus. Er hätte eigentlich der nette Nachbar von nebenan sein können. Doch in diesem Moment hinterließ er genau den gegenteiligen Eindruck. Also noch einmal in die tiefe Bauchatmung gehen und eine stille Danksagung an Frau Reiter abschicken, die uns in der Klinik unter anderem auch diese Entspannungsübung vermittelt hatte. Dann schaute ich meinen Rucksack liebevoll an. „Na, magst du dem Herren Platz machen?“, fragte ich ihn ohne weiter aufzusehen. „Das finde ich aber lieb von dir“, fuhr ich fort. „Möchtest du dich hier zwischen meinen Beinen auf den Boden setzen oder lieber auf meinen Schoß kommen? … Auf meinen Schoß? Okay, dann komm mal her.“ Ich nahm den Rucksack und legte ihn mir auf die Knie. „So, jetzt kannst du auch besser rausschauen, nicht wahr?“ Dann bot ich dem Herrn mit einer einladenden Geste den freigewordenen Platz an. „Bitte sehr“, sagte ich freundlich und genoss seinen etwas entgeisterten Blick.

Nachdem sich der Mann zögernd hingesetzt hatte, wandte ich mich wieder meinem Rucksack zu. „Na“, sagte ich, „kannst du gut sehen? … Ja? … Prima! … Wenn wir gleich in die nächste Station einfahren, kannst du noch mehr sehen. Jetzt ist es ja doch ziemlich dunkel da draußen.“ Plötzlich rauschte eine Bahn aus der entgegengesetzten Richtung an uns vorbei. „Oh, hast du dich erschreckt? … Du brauchst keine Angst zu haben. Das war nur ein anderer Zug. Es ist alles gut!“ Ich schwieg für einen Moment und schaute abwechselnd mal auf meinen kleinen Rucksack und dann wieder zum Fenster hinaus.

Wir fuhren in die nächste Station ein. Dort erblickte ich eine junge Frau auf dem Bahnsteig, die gerade dabei war, einen großen Rucksack auf ihren Rücken zu wuchten. Er war voll bepackt, und es waren sowohl ein Schlafsack als auch eine Iso-Matte an ihm festgegurtet. Da wollte offensichtlich jemand auf eine größere Reise gehen. „Schau mal“, sagte ich zu meinem kleinen Rucksack, „sowas machst du wahrscheinlich auch irgendwann mal, wenn du groß bist.“ Dann schwieg ich und rückte meinen Begleiter etwas zurecht. Dabei streichelte ich ein paarmal sanft an ihm entlang.

„Du bist ja ein ganz Lieber“, hörte ich plötzlich eine Frauenstimme. Erstaunt schaute ich auf. Sie gehörte zu der älteren Dame, die mir gegenüber saß. Ihre strengen Gesichtszüge waren ganz sanft geworden. Freundlich betrachtete sie meinen Rucksack. Dann sah sie mich an. „Wie heißt der denn?“ Nach einem kurzen Überraschungsmoment hatte ich mich wieder im Griff. „Das ist Rolf.“

„Der ist ja wirklich gut erzogen.“ „Ja“, antwortete ich, und etwas Stolz schwang in meiner Stimme mit, „aber er hat es mir auch leicht gemacht. Er war von Anfang an sehr pflegeleicht und genügsam. Manchmal ist er sogar zu gutmütig. Er müsste dringend lernen, auch mal rechtzeitig ‚Nein‘ zu sagen, wenn ich ihn packe. Er neigt nämlich dazu, sich zu übernehmen, und will dann immer viel zu viel tragen.“ „Oh, das Problem kenne ich“, sagte die Frau und deutete mit einem kurzen Blick zu der Handtasche, die auf ihrem Schoß lag. „Da muss man wirklich aufpassen, sonst überfordert man die Kleinen noch!“ „… und dann kann das Ding auch schon mal ganz schnell kaputt gehen“, mischte sich nun ihr Mann in das Gespräch mit ein. „Mein Gott, ist das dann immer ein Drama.“ „Ach Martin, du sollst nicht immer ‚Ding‘ zu meinem Liebling sagen. Sie hat schließlich auch Gefühle.“„Entschuldige, meine Liebe, aber du musst zugeben, dass es immer einen riesen Aufstand gibt, wenn mal was kaputt geht oder verschmutzt“, entgegnete ihr Mann. Dann wandte er sich mir zu. „Ich warte nur darauf, dass sie irgendwann den Schuster bei uns an der Ecke anruft und ihn bittet, wegen eines Notfalls einen Hausbesuch bei uns zu machen.“

„Ja, man hat schon viel Verantwortung!“, sagte ich und versuchte die Situation zu beschwichtigen. „Daher habe ich für größere Einkäufe auch einen anderen Rucksack. Mit ihm gehe ich vor allem Lebensmittel einkaufen, denn das mag Rolf überhaupt nicht. Da fängt er schon mal an zu nörgeln, wenn ich mit ihm losgehen will.“

„Ach, Sie haben auch mehrere?“, jubelte die Frau. „Oh ja, und sie haben alle ganz konkrete Aufgaben. Neben Jörg, das ist der, mit dem ich zum Einkaufen gehe, habe ich noch weitere. Da ist Heinz, der mich immer zur Arbeit begleitet. Und dann gibt es noch einen ganz kleinen, den Friedolin. Ihn nehme ich mit, wenn ich zum Beispiel ins Kino gehe oder mich mit Freunden treffe. Da braucht man ja in der Regel nicht so viel mitzunehmen. Dann gibt es noch Friedrich und Willy. Sie sind für Sondereinsätze da und stehen gleichzeitig als Reserve zur Verfügung, falls einer der anderen mal ausfallen sollte. Außerdem habe ich noch zwei große, den Karsten und den Ludwig. Die beiden nahm ich früher immer in den Urlaub mit. Also nicht beide gleichzeitig, sondern nur einen von ihnen – je nachdem, wie lange ich unterwegs war. Karsten ist etwas größer als Ludwig. Aber die sind inzwischen erwachsen geworden und werden wohl bald ihre eigenen Wege gehen. Außerdem bin ich für längere Reisen inzwischen auf Koffer umgestiegen.“

„Das kommt mir alles sehr bekannt vor. Ich habe, wie gesagt, auch mehrere Handtaschen, von denen mich immer eine begleitet. Allerdings wähle ich sie danach aus, was ich an dem Tag gerade anhabe. Sie müssen nämlich immer zu meinem Outfit passen.“ „Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Aber dann müsste ich mir wesentlich mehr Rucksäcke kaufen. Und das wird dann richtig teuer.“„Nein, das muss es nicht“, meldete sich ihr Ehemann wieder zu Wort. „Wir zum Beispiel züchten die Dinger.“ Das war der Moment, in dem ich neben mir ein verärgertes Schnaufen hörte. Mein Sitznachbar stand auf und verließ die U-Bahn an der Station, in die wir gerade eingefahren waren.

Gleich darauf legte ich meinen Rucksack wieder neben mich auf den freigewordenen Platz zurück. „Wollen Sie Ihre Handtasche dazu legen?“, fragte ich die Frau.
„Besser nicht“, antwortete diese. „Meine Klara ist sehr schüchtern.“

– Andreas Ballnus —

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ZUM AUTOR

Andreas Ballnus
Jahrgang ’63, Liedermacher und Autor.  Unter dem Nick „anbas“ hat er in dem Literaturforum „Leselupe.de“ eine Vielzahl seiner Texte veröffentlicht. Er lebt in Hamburg und verdient sein Geld als Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst. Weitere Informationen: andreasballnus.de.tl

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Andreas Ballnus erzählt in seiner Kolumne „Kann passieren“ reale Begebenheiten, fiktive Alltagsgeschichten und manchmal eine Mischung aus beidem. Diese sind wie das Leben: mal humorvoll, mal nachdenklich. Die Geschichten erscheinen jeweils am letzten Freitag eines Monats in business-on.de.

Hier finden Sie eine Übersicht aller Beiträge, die von Andreas Ballnus erschienen sind.

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Lesen Sie auch die  Buchbesprechung zur Antologie „Tierisch abgereimt“.

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