Im April vor 25 Jahren veröffentlichte unser Kolumnist in der „Zeit“ einen Bericht, wenige Tage später im WDR-Fernsehen eine TV-Dokumentation über die Situation der Angehörigen von Vermissten. Erstmals wurde damals das Thema ernsthaft in den Medien behandelt und festgestellt, dass die Angehörigen von Vermissten Unterstützung benötigen. Seitdem unterhält der Autor auch ein kostenloses Beratungstelefon für Angehörige von Vermissten. In einer Serie im Rahmen dieser Kolumne begründet Jamin, warum sich für die Betroffenen seit Jahrzehnten die Situation nicht verändert hat.
Unsere Gesellschaft hat Angst, sich ernsthaft mit den Anliegen der Vermissten und vor allem ihrer Angehörigen auseinanderzusetzen. Für sie ist in dieser Gesellschaft kein Platz. Die Verschwundenen sind weg – die Daheimgebliebenen müssen mit dem Mangel leben.
Warum?
Das Verschwinden von Menschen erinnert die Gesellschaft eben an ihre großen Probleme und Verwerfungen. Die Schicksale der Vermissten und ihrer Angehörigen sind der sozialen Gemeinschaft die Spiegel ihres Versagens – vor allem, wenn man sich mit den Gründen für das Verschwinden befasst. Dahinter stehen alle Probleme der Bürger, die man sich in unserer Gesellschaft vorstellen kann. Die Probleme sind so groß, dass die Menschen den äußersten Weg beschreiten: sich in Luft auflösen. Es gibt nur noch eine Stufe, die schwerwiegender ist, weil sie den Betroffenen größte Schmerzen bereitet: die Selbsttötung.
Nur in einem Prozent aller Vermisstenfälle, rund 1.000 im Jahr, sind Gewaltdelikte die Ursache: Mord, Totschlag, Entführung. Bei allen anderen Fällen finden sich die großen Probleme unserer Zeit: zum Beispiel Gewalt in der Familie, Vereinsamung, Schulden, Mobbing, Misshandlungen und Missbrauch, Prüfungsangst, Versagen in Schule, Beruf und Studium, Liebeskummer und soziale Enttäuschungen, Arbeitslosigkeit, Scheidung, Alkoholismus und Drogensucht und nicht zuletzt auch Krankheiten (z.B. Demenz) und psychische Krisen. Abenteurer und Aussteiger sind die wenigsten.
In jedem Jahr verschwindet die Bevölkerung einer Großstadt
Weil sie ihre Probleme nicht mehr beherrscht, verschwindet jedes Jahr die Bevölkerung einer Großstadt wie Ulm – die meisten nur für Tage und Wochen, zu viele für Monate und Jahre oder für immer. Angesichts der oft massiven Schwierigkeiten im Alltagsleben, der Millionen „Opfer“ in unserer Gesellschaft, ist es ein Wunder, dass es nicht noch mehr sind.
Niemand gibt Rat. Niemand hilft. Die Schicksale von vier Frauen machen deutlich, welch außergewöhnliche Erfahrungen Angehörige von Vermissten machen. Damit kann doch kein Mensch quasi von einer Stunde zur anderen allein fertig werden!
- Fall 1: Die Lebensgefährtin eines Beamten steht mit dem Kind des Partners von einem Tag auf den anderen allein da, als der Mann wochenlang spurlos verschwindet und schließlich tot aufgefunden wird. Sie hat kein Sorgerecht für das Kind, sie weiß nicht, wie sie die Raten für das gemeinsam gekaufte Haus bezahlen soll. Sie hat kein Verfügungsrecht über das Konto des Partners. Keine Institution hilft mit Rat – etwa der Beantragung einer Abwesenheitspflegschaft.
- Fall 2: Die Ehefrau eines an Demenz erkrankten Rentners ist über Monate ohne Unterstützung, nachdem der Mann von einem Spaziergang nicht heimkehrt. Sie ist sich sicher, dass sich der geliebte Gatte verlaufen und bei winterlichen Temperaturen in einer einsamen Gegend irgendwo in der Stadt gestorben ist. Niemand unterhält sich mit ihr über ihre Verzweiflung. Kein Institution empfiehlt ihr zum Beispiel eine Gesprächstherapie.
- Fall 3: Wochenlang sucht eine Mutter ihren erwachsenen Sohn. In dessen Wohnung läuft der Briefkasten über. Es gibt kein Lebenszeichen und eigentlich auch keinen Grund für das Verschwinden. Der Vermisste liegt wochenlang in einer Klinik, wo er schwerverletzt nach einem Unfall in einem U-Bahnhof behandelt wird. Niemand kümmert sich darum, die Angehörigen zu finden.
- Fall 4: Der psychisch kranke, erwachsene Sohn einer betagten Rentnerin wirft der Mutter eines Tages die Schlüssel seiner Wohnung in den Briefkasten und verschwindet. Die betagte Frau versucht zunächst mit ihren wenigen Ersparnissen die Wohnungsmiete des Sohnes, Rechnungen für Strom und Heizung und andere Verpflichtungen zu bezahlen. Doch die Situation übersteigt ihre Kräfte. Wohnungs-, Arbeitsplatz- und Krankenkassen-Kündigung – keine Institution hilft ihr bei der Regelung der Hinterlassenschaft des Sohnes und vor allem auch bei der Suche nach ihm. Niemand empfahl ihr, in den psychiatrischen Kliniken der Umgebung zu suchen, wo der Kranke schließlich auch gefunden wurde.
Dabei wäre Unterstützung der Betroffenen so einfach gewesen…
In allen vier Fällen wäre Unterstützung einfach gewesen, wenn man den Frauen bei der Vermisstmeldung auf der Polizeiwache ein Informationsblatt mit einer entsprechenden Anlaufstelle in der kommunalen Sozialbehörde gegeben hätte und dort ein Vermisstberater (die es nicht gibt) wäre.
Die Angehörigen von Vermissten formulieren keine Forderungen und stellen keine Ansprüche an den Staat, sondern lassen sich wie No-Names im Niemandsland ausgrenzen. Man fragt sich, warum niemand von ihnen an die Öffentlichkeit geht und Forderungen stellt – und warum niemand gegen die Ignoranz unserer Gesellschaft protestiert?!
Zum einen sind die Betroffenen nach dem Verschwinden eines Menschen so sehr mit der seelischen Bewältigung des Verlassenwerdens und der Organisation des radikal veränderten Alltags befasst, dass ihnen keine Kraft für gesellschaftliches Engagement bleibt. Sie müssen nicht nur ihr eigenes Leben in den Griff bekommen, sie müssen häufig auch noch die Scherben beiseite räumen, die die Vermissten hinterlassen haben: Kreditgeber und Banken fordern Geld, Arbeitgeber, Krankenkassen und Versicherungen erwarten Auskunft und Entscheidungen, Wohnungseigentümer bestehen auf die Räumung einer Wohnung, Freunde und Bekannte wollen umfassend informiert werden etc.
Dabei ist den Angehörigen nicht nach Reden und Handeln zumute. Sie schämen sich wegen ihres Schicksals. Sie haben das Gefühl, versagt zu haben, wenn ein Kind, ein Ehemann, eine Ehefrau oder Freundin verschwindet. Man hat die Probleme in der Familie oder Partnerschaft nicht gelöst. Jemand ist geflüchtet, die Zurückgebliebenen sind daran schuld. Die Angehörigen von Vermissten haben das Gefühl, alleine für diese Situation zuständig zu sein und vor allen Dingen auch daran zumindest eine Mitschuld zu haben.
Die Auseinandersetzung mit dem möglichen eigenen Versagen
Und damit sind wir beim Thema Schuld und Schuldgefühle. Häufig höre ich, dass sich Angehörige immer wieder fragen, wo und wann sie versagt haben. Was sie getan haben, damit sie verlassen wurden. Bei welchem Ereignis, in welcher Situation hätten sie anders reagieren sollen, um das Verlassenwerden zu verhindern?
Sicherlich haben in etlichen Fällen Angehörige zumindest eine Mitschuld an der Situation. Schwerwiegende Streitigkeiten, falsches Verhalten von Beteiligten können natürlich dazu beitragen, dass jemand geht. Manchmal ist die Schuld auch besonders groß.
Doch meistens schämt man sich, ohne zu wissen wofür. Und weil die Scham so groß ist, ruft man auch nicht nach Hilfe. Weder Freunde noch Bekannte, weder Kirche noch Staat werden in die Pflicht genommen, und man gründet auch keine Initiative und veranstaltet keine Demonstration, um Hilfe von Staat und Gesellschaft einzufordern. Man versucht irgendwie klarzukommen, sich selbst zu helfen.
Fixiert auf das eigene Schicksal
Die Angehörigen von Vermissten leiden still. Und sie sind so intensiv auf ihr eigenes Schicksal und der Bewältigung der damit verbundenen Probleme fixiert, dass sie auch nicht den Blick frei haben für die Probleme ähnlich Betroffener. Auch dann nicht, wenn die vermisste Person, wie in den meisten Fällen, nach Wochen oder Monaten heimkehrt. Denn dann beginnen ja erst die Probleme in voller Härte:
- Man muss die Ursache aufarbeiten, die zum Verschwinden des geliebten Menschen führte.
- Man muss das Leid und das Chaos bewältigen, das bei den Angehörigen durch das Verschwinden ausgelöst wurde.
- Und man muss einen gemeinsamen Weg finden, um wieder miteinander leben zu können.
Wer sich diesen Anforderungen stellt, hat irgendwann die Chance, wieder eine akzeptable Beziehung in Familie oder Partnerschaft zu führen. Doch wer, wie viele Betroffene, nicht wirklich über die Vermisst-Situation spricht und das Thema meidet, wird bei dem Gedanken an das Vermisst-Sein von Menschen immer in einen eigenen, dunklen Abgrund schauen. Und darüber schweigt man.
(Ende der Serie zum Thema „Vermisste Menschen und ihre Angehörigen“ / Das Video des center-tv-Interviews hier.)
Bleiben Sie fröhlich. Bis nächsten Freitag. Auf einen Cappuccino…
Ihr Peter Jamin
Unser Autor arbeitet als Schriftsteller und Publizist sowie als Berater für Kommunikation seit Jahrzehnten immer wieder auch für ausgewählte Projekte. Sein soziales Engagement gilt der Situation von Angehörigen vermisster Menschen, auf deren Situation er in Büchern, TV-Dokumentationen und Artikeln seit mehr 20 Jahren aufmerksam macht. Mehr unter www.jamin.de
Peter Jamin