Durch die Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, ohne Angabe der behandelnden Ärzte, wird den Arbeitgebern die Möglichkeit genommen, aus dem Standort der Praxis und dem Fachgebiet Rückschlüsse ziehen zu können. Umso wichtiger ist es für die Arbeitgeber, zweifelhafte Fallkonstellationen bei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und die Fälle von höchstrichterlich festgestelltem erschütterten Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeit zu kennen, um im Zweifel die Entgeltfortzahlung zur Überprüfung des Vorganges einzustellen. Dabei ist der Arbeitgeber nicht auf die in § 275 Abs. 1 a SGB V aufgeführten Beispiele beschränkt.
Um den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeit zu erschüttern, sind objektive Anhaltspunkte notwendig. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) genügt aufgrund des normativ vorgegebenen Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeit ein bloßes Bestreiten der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht. Der Arbeitgeber kann den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeit aber erschüttern, wenn er tatsächliche Umstände darlegt und beweist, die Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit geben. Mit der Folge, dass der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt.
Die Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeit kann sich auch aus der Bescheinigung selbst ergeben, ebenso aus dem Vortrag und den Erklärungen des Arbeitnehmers.
Besonders zweifelhafte Konstellationen sind die angekündigte Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers nach einem Streit mit dem Arbeitgeber, die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers nach einem abgelehnten Urlaubsantrag und die wiederholte Arbeitsunfähigkeit an Brückentagen oder vor und nach Feiertagen oder Urlaubstagen. Mit Urteil vom 8. September 2021 hat das BAG festgestellt, dass das zeitliche Zusammentreffen der Eigenkündigung durch den Arbeitnehmer und dessen Arbeitsunfähigkeit bis hin zum Beschäftigungsende den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeit erschüttert. Das Bundesarbeitsgericht hat zudem in seinem Urteil vom 13. Dezember 2023 entschieden, dass auch der Beweiswert dann erschüttert ist, wenn der arbeitsunfähige Arbeitnehmer nach Zugang der Arbeitgeberkündigung eine oder mehrere Folgebescheinigungen vorlegt, die passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfassen und der Arbeitnehmer unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt.
Sofern der Arbeitgeber den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erfolgreich erschüttert, muss der Arbeitnehmer substantiiert darlegen und beweisen, dass er auch tatsächlich arbeitsunfähig war. Der Arbeitnehmer muss erklären, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden. Der Arbeitnehmer kann diese Erklärung durch die Zeugenvernehmung der behandelnden Ärzte nach vorangegangener Entbindung von der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht beweisen. Zudem kann sich der Arbeitnehmer an den medizinischen Dienst seiner Krankenkasse wenden und eine Begutachtung beantragen.
— Martin Bauer —
_______________________
ZUM AUTOR
Rechtsanwalt Martin Bauer, Leiter der Geschäftsstelle Schleswig-Holstein, AGA Norddeutscher Unternehmensverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistung e.V.
Im AGA sind mehr als 3.500 überwiegend mittelständische Groß- und Außenhändler sowie unternehmensnahe Dienstleister aus Norddeutschland organisiert. Der AGA unterstützt in Unternehmens- und Personalführung sowie in allen arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Fragen. Ferner vertritt der AGA die branchen- und firmenspezifischen Belange seiner Mitglieder gegenüber Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit. www.aga.de
_______________________
DAS KÖNNTE SIE AUCH INTERESSIEREN
Entgeltfortzahlung und Kündigung
Bildquellen
- Bauer_Martin: AGA Unternehmensverband
- Krankmeldung: Simoneminth / Adobe Stock