Connect with us

Hi, what are you looking for?

Kolumnen & Glossen

Kolumne „Kann passieren …“ – Hinter mir

Kennen Sie das Gefühl, dass Sie heimlich beobachtet oder verfolgt werden? Wenn nicht, können Sie froh sein, denn es fühlt sich nicht gut an. Falls Sie aber zu den Menschen gehören, die dieses Gefühl kennen – und es ist jetzt nicht der pathologische Verfolgungswahn gemeint – so wissen Sie, worüber unser Autor Andreas Ballnus in seiner aktuellen Kolumne schreibt. Mögen Sie Texte, die etwas unheimlich sind? Dann wünschen wir Ihnen jetzt viel Spaß.

Foto: Favorit-Media-Relations GmbH

Er steht immer hinter mir. Immer! Ich spüre seine Nähe, weiß, dass er da ist. Darum muss ich auch ständig gehen, darf nicht stehen bleiben, sonst ist er sofort da. Zwar folgt er mir auch, wenn ich gehe, doch das in einem größeren Abstand. Dann spüre ich ihn nicht mehr so intensiv. Sobald ich aber stehen bleibe, ist er da. Nie spricht er mit mir, berührt mich auch nie, steht einfach nur so da, hinter mir, starrt mich an. Ich spüre, wie sich seine Blicke in meinen Nacken bohren. Darum muss ich stets in Bewegung bleiben; esse, telefoniere und unterhalte mich möglichst immer im Gehen. Ich muss mich nicht unbedingt schnell bewegen, es reicht völlig aus, dass ich in Bewegung bleibe. Doch oft gehe ich schnell, bin ein Verfolgter, fühle mich gehetzt. Die Momente, in denen ich stehen bleiben muss, versuche ich so kurz wie möglich zu halten. Auch wenn ich schlafe, ist er da. Dann steht er neben meinem Bett, starrt mich an, wartet, dass ich wieder aufstehe. Darum möchte ich manchmal einfach liegenbleiben. Doch ich kann seine Blicke spüren. Sie sind nicht zu ertragen. Ich schaue niemals zu ihm hin, wenn ich im Bett liege; lege mich immer mit dem Gesicht zur Wand, steige rückwärts aus dem Bett, bloß, um ihn nicht anschauen zu müssen.

Ich weiß, dass er da ist – auch, wenn ich ihn nicht sehe. Ein einziges Mal habe ich ihn gesehen, und das reicht mir für den Rest meines Lebens. Nie wieder werde ich mich abrupt umdrehen. Nicht so wie damals, als alles begann. Ich stand vor einem Restaurant und las mir die Speisekarte durch, die dort in einem dieser kleinen Kästchen neben der Eingangstür hing. Es war bereits dunkel und die kleine Gasse menschenleer, nur spärlich beleuchtet. Plötzlich habe ich ihn gespürt. Er stand hinter mir. Nach einem kurzen Zögern drehte ich mich blitzartig um, und da war er: Keine 50 Zentimeter von mir entfernt. Aus seinem hageren, blassen Gesicht starrte er mich mit glasigen, toten Augen an. Sagte kein Wort, rührte sich nicht, verzog keine Miene. Ich schrie auf und fiel zu Boden. Als ich wieder zu mir kam, lag ich noch immer in dieser kleinen dunklen Gasse. Niemand hatte mich gehört oder gefunden. Nur er war da, auch wenn ich ihn nicht sehen konnte. Doch ich spürte ihn genau. Brauchte nicht nach ihm Ausschau halten, wollte das auch nicht. Seitdem gehe ich. Den ganzen Tag über gehe ich. Nur nicht stehen bleiben und erst recht nicht plötzlich und überraschend umdrehen. Ich habe keine Ahnung, warum er das tut, welches Ziel er damit verfolgt. Doch ich werde ihn auch nicht fragen. Denn wenn ich mit ihm reden will, müsste ich mich vielleicht umdrehen und ihn ansehen. Aber das kann ich nicht. Sein Anblick damals in der dunklen Gasse … Nein, ich kann das wirklich nicht! Also werde ich weiter gehen, so wenig wie möglich stehen bleiben und mich auf gar keinen Fall überraschend umdrehen.

Ich weiß, du kannst ihn nicht sehen – sagst du zumindest. Und du selber würdest nicht verfolgt werden – behauptest du. Doch sag, wann hast du dich das letzte Mal abrupt umgedreht?

 

– Andreas Ballnus —

_________________________

ZUM AUTOR

Andreas Ballnus
Jahrgang ’63, Liedermacher und Autor.  Unter dem Nick „anbas“ hat er in dem Literaturforum „Leselupe.de“ eine Vielzahl seiner Texte veröffentlicht. Er lebt in Hamburg und verdient sein Geld als Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst. Weitere Informationen: andreasballnus.de.tl

Bildquellen

  • Andreas Ballnus: Sebastian Lindau
  • Schattenmann: Favorit-Media-Relations GmbH
Werbung

Anzeige

RECHTSPUNKTE

Rechtsanwältinnen und -anwälte des AGA Unternehmensverbands informieren über arbeitsrechtliche Themen und mehr …

Beginn des Kündigungsverbotes in der Schwangerschaft

Sozialauswahl bei betriebsbedingter Kündigung

Mindestlohn für ein „Vorpraktikum“?

Lesen Sie weitere rechtliche Themen in der Rubrik „Recht & Steuern“

Kolumne Kann passieren

KOLUMNE KANN PASSIEREN

Andreas Ballnus erzählt in seiner Kolumne „Kann passieren“ reale Begebenheiten, fiktive Alltagsgeschichten und manchmal eine Mischung aus beidem. Diese sind wie das Leben: mal humorvoll, mal nachdenklich. Die Geschichten erscheinen jeweils am letzten Freitag eines Monats in business-on.de.

Hier finden Sie eine Übersicht aller Beiträge, die von Andreas Ballnus erschienen sind.

Interview: 100 x Andreas Ballnus

Lesen Sie auch die  Buchbesprechung zur Antologie „Tierisch abgereimt“.

ANZEIGE

Weitere Beiträge

Kolumnen & Glossen

In dem Interview zur hundertsten Ausgabe dieser Kolumne hatte unser Autor Andreas Ballnus unter anderem berichtet, dass er gerade an einem Text schreibt, in...

Kolumnen & Glossen

Zahlen sind weit mehr als nur der Bestandteil schulischer Unterrichtsfächer. Überall im Alltag haben sie oft große Bedeutung, auch in Religionen, Mystik und Aberglauben....

Kolumnen & Glossen

Dank der sozialen Medien ist es heutzutage möglich, mit dem größten Schwachsinn Karriere zu machen und berühmt zu werden. Für alles gibt es Experten...

Kolumnen & Glossen

Es gibt viele Dinge, über die man sich im Alltag aufregen kann. Man kann, muss es aber nicht. Doch nur wenige Menschen sind mit...

Kolumnen & Glossen

Bahnhöfe stehen oft symbolisch für das Ankommen und Fortgehen. Mal brodelt in ihnen das Leben, und dann wieder liegen sie einsam in einer verträumten...

Kolumnen & Glossen

Wieder einmal hatte unser Autor Andreas Ballnus einen unfreiwilligen Aufenthalt in einem ihm unbekannten Bahnhof. Und genauso wie einst in Treuchtlingen entstand auch diesmal...

Kolumnen & Glossen

Tagträume und Selbstgespräche sind zunächst einmal recht alltägliche Dinge, die wohl fast jedem Menschen vertraut sein dürften. Dinge, über die man lächelt, vielleicht mal...

Interviews

Skurril, einfühlsam, nachdenklich, unerwartet – Andreas Ballnus beobachtet seine Umwelt, Mensch und Tier, bringt Menschliches und Menschelndes feinsinnig auf den Punkt. Seit 2015 veröffentlicht...

Werbung