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Kolumne „Kann passieren …“ – Die Rückkehr

Gelegentlich nimmt sich unser Autor Andreas Ballnus eines seiner Frühwerke vor, welches er dann grundlegend überarbeitet. Diese mysteriöse Geschichte mit Gruselfaktor schrieb er im Alter von sechzehn Jahren. Rund dreißig Jahre später hat er „Die Rückkehr“ erstmals wieder hervorgeholt, stilistisch und inhaltlich „aufgefrischt“ und für diese Kolumne gründlich bearbeitet.

Gelegentlich nimmt sich unser Autor Andreas Ballnus eines seiner Frühwerke vor, welches er dann grundlegend überarbeitet. Diese mysteriöse Geschichte mit Gruselfaktor schrieb er im Alter von sechzehn Jahren. Rund dreißig Jahre später hat er „Die Rückkehr“ erstmals wieder hervorgeholt, stilistisch und inhaltlich „aufgefrischt“ und für diese Kolumne gründlich bearbeitet.

An einem kalten, verregneten Montagmorgen wurde Thomas entlassen. Nach einundzwanzig Jahren Haft wegen des Mordes an seinen Eltern war er endlich wieder frei. Wie sehr hatte er auf diesen Tag gewartet, voller Freude, aber auch mit etwas Furcht. Er war sich nicht sicher, ob und wie er mit dem Leben außerhalb der Gefängnismauern zurechtkommen würde. Mit seinen neunundvierzig Jahren und der Knast-Vergangenheit würde ein Neuanfang höchstwahrscheinlich schwierig werden.

Nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, zündete er sich bedächtig eine Zigarette an – seine erste in Freiheit. Er genoss es, einfach so dazustehen, und diesen Moment ganz bewusst in sich aufzunehmen. Es kam ihm vor, als hätte sich mit dem ersten Schritt aus dem Knast alles um ihn herum verändert – die Luft, das Licht, die Farben und die Gerüche, ja, selbst die Zigarette schmeckte anders.

Der graue Himmel begann, sich immer stärker zu verdunkeln. Thomas nahm seine Tasche und schlenderte zur nahegelegenen Hauptstraße. Von dort aus wollte er in die Stadt trampen, denn er hatte keine Lust, auf den Bus zu warten, der nur einmal in der Stunde hier vorbeifuhr. Es waren aber nur wenige Autos unterwegs – etwas ungewöhnlich für einen Montagvormittag. Die Chance, mitgenommen zu werden, war geringer als er es sich gedacht hatte. Darum beschloss er, zu Fuß zu gehen. Der etwa sechs Kilometer lange Weg schreckte ihn nicht – im Gegenteil, die Vorstellung, nun einfach irgendwo hingehen zu können, ohne dafür um Erlaubnis bitten zu müssen, gefiel ihm ausgesprochen gut. Früher war er gerne gewandert oder hatte ausgiebige Spaziergänge unternommen.

Er schaute sich noch einmal um, obwohl ein alter Aberglaube sagte, dass man nicht zurückblicken soll, wenn man aus der Haft entlassen wird, weil man sonst auf jeden Fall zurückkehren würde. Doch von solchen Dingen hielt Thomas nichts. Nein, dort würden sie ihn nie wieder sehen, in diesen verhassten Gemäuern. Er dachte zurück an die Jahre, die er dort verbracht hatte, an die ungeliebte Arbeit in der Wäscherei, an den festgelegten monotonen Tagesablauf, an die Mithäftlinge und die einfach nicht verstreichen wollende Zeit während des Einschlusses.

Thomas war schon einige Zeit unterwegs gewesen, als es zu regnen begann. Bisher waren nur wenige Autos an ihm vorbeigefahren, doch auf sein Winken hin hatte keines angehalten. Als der Regen stärker wurde, flüchtete er unter einen Baum, der an der Straße stand. Gleich darauf setzte ein kräftiges Gewitter ein. Bald konnte der Baum den Regen nicht mehr abhalten.

Währenddessen wurde es immer dunkler, so, als wäre zu dieser frühen Tageszeit die Nacht bereits angebrochen. Thomas konnte sich das nicht erklären. Ein ungutes Gefühl stieg in ihm auf, und er überlegte, ob er doch lieber umkehren und auf den Bus warten sollte.

Als ein greller Blitz direkt über ihm den Himmel zu zerreißen schien, zuckte er zusammen. In seinem Schein entdeckte er einen Wagen, der langsam auf ihn zu fuhr. Es war ein schwarzer Wagen. Trotz der schlechten Sichtverhältnisse fuhr er ohne Licht, weshalb Thomas ihn auch erst sehr spät bemerkt hatte. Wieder winkte er. Der Wagen hielt einige Meter vor ihm an. Thomas lief zu ihm hin. Das Fenster wurde heruntergekurbelt. Er erblasste. – In dem Auto saßen seine Eltern.

Blass und unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, stand er da, während der Regen an ihm hinunterlief. Ihm war übel. Eine Gänsehaut nach der anderen ließ seinen Körper erzittern und ein einziges Chaos an Gedanken schoss ihm wild durch den Kopf. Sie waren doch tot. Von ihm umgebracht! Er war auf ihrer Beerdigung gewesen, die er sehr aufwändig organisiert hatte! Damals stand er noch nicht einmal unter Verdacht. Zuvor waren sie anhand von DNA-Tests identifiziert worden. Den Anblick der beiden Toten hatte die Polizei ihm ersparen wollen, was ihm sehr Recht gewesen war. Durch das Feuer und die lange Zeit, die sie im Wasser gelegen hatten, sollen sie furchtbar entstellt gewesen sein.

„Thomas, was ist? Warum starrst du mich so an?“

Die Worte seiner Mutter holten ihn für einen Moment aus seiner Verwirrung zurück. Er war fassungslos. Ganz deutlich hörte er ihre Stimme. Und sie saß wie immer auf dem Beifahrersitz mit ihrer kleinen Handtasche auf dem Schoß. Diese Handtasche, die sie ständig durchgeknetet hatte, wenn Vater wieder einmal viel  zu schnell gefahren war.

„Steig doch ein, Junge! Oder willst du da draußen erfrieren?“

Sein Vater beugte sich zum Fenster hinüber und grinste ihn breit an. Thomas‘ Herz schlug immer schneller. Unfähig, auch nur ein Wort zu sagen, schaute er ungläubig von einem zum andern. Er konnte nicht begreifen, was da gerade vor sich ging.

„Nun steig schon ein, Thomas! – Alles andere klären wir später“, sagte seine Mutter lächelnd.

Zögernd öffnete er die hintere Tür und stieg ein. Als sie losfuhren, lehnte er sich zurück und atmete tief durch. Seine nasse Kleidung und die Tropfen, die ihm aus den Haaren über das Gesicht liefen, bemerkte er kaum. Nur flüchtig wischte er sich mit dem Ärmel über die Stirn.

„Ich begreife das nicht – ich dachte, ihr seid tot“, murmelte Thomas.
„Ich sagte doch, das klären wir später“, antwortete seine Mutter ruhig aber bestimmt.

Schweigend fuhren sie weiter. Es war so wie damals. Sie hatten nie viel miteinander geredet. Das gegenseitige Anschweigen war wie ein dumpfer, grauer Mantel gewesen, der über der Familie gelegen hatte. Langsam tauchten die Erinnerungen wieder auf. Erinnerungen, die er in den letzten einundzwanzig Jahren immer weiter verdrängt hatte.

Dieses Schweigen – dieses grausame und alles erstickende Schweigen. Es war der Schlüssel zu allem gewesen, was später geschehen war. Erst in diesem Moment wurde ihm das bewusst. Und dann sah er wieder alles vor sich: Der gemeinsame Wochenendausflug mit der kleinen, aber doch geräumigen Motorjacht. Sein Vater hatte jahrelang nur darauf hin gespart, um sich diesen Jugendtraum zu erfüllen. Das Schlafmittel im Wein und die versperrten Luken des Schiffes. Dann hatte er Benzin verschüttet, es angesteckt und sich selber Brandwunden zugefügt – es sollte alles nach einem Unfall aussehen. Erst im letzten Moment war er vom brennenden Schiff gesprungen und ans Ufer geschwommen. Viel zu spät hatte er erkannt, dass sein Plan doch nicht so gut gewesen war, wie er es gedacht hatte.

Der Wagen fuhr nun eine schnurgerade Straße entlang. Während seiner Freigänge war er öfters mal mit dem Bus in die Stadt gefahren, doch an diesen Abschnitt der Strecke konnte er sich nicht erinnern. Draußen war es inzwischen stockdunkel, so dass er vor sich nur noch die schemenhaften Umrisse seiner Eltern sah.

Thomas unternahm einen weiteren Versuch, mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
„Wie ist es möglich, dass ihr noch lebt? Man hat euch doch identifiziert. Ich war auf der Beerdigung. Ich war bei allem dabei!“

Wieder bekam er keine Antwort. Es war still im Wagen, nur die Scheibenwischer quietschten monoton. Seit sie auf dieser Straße fuhren, war ihnen kein weiteres Auto mehr entgegengekommen. Thomas wurde immer unruhiger.

„Hey, hört ihr nicht? Wie habt ihr überlebt? Wer sind die beiden Toten gewesen, die man damals geborgen hat?“
Auch jetzt antworteten seine Eltern nicht. Dieses Schweigen – in Thomas stieg ein längst vergessener und doch immer noch übermächtiger Zorn empor. Der Wagen raste inzwischen durch die Dunkelheit. Doch im Gegensatz zu früher mahnte seine Mutter nicht, dass Vater etwas mehr aufzupassen und langsamer fahren sollte.

„Was ist denn bloß los mit euch?“, platzte es aus Thomas heraus. „Soll dieses verdammte Anschweigen jetzt so weiter gehen?“, brüllte er wutentbrannt. Dann beugte er sich nach vorne und schüttelte seine Mutter an den Schultern. – Augenblicklich schrie er auf und zuckte entsetzt zurück, denn vor ihm saßen zwei nach vorne grinsende Skelette.

Thomas zitterte am ganzen Körper. Ungläubig starrte er von einem zum anderen. Er konnte kaum noch atmen und war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.

Währenddessen raste das Auto weiter und schien sogar immer noch schneller zu werden. Als Thomas aufblickte, war es draußen wieder etwas heller geworden, und in der Dämmerung sah er in der Ferne eine Kurve auftauchen. Seinen Ekel überwindend beugte er sich hastig zwischen den beiden Skeletten hindurch und griff nach dem Lenkrad. Doch es ließ sich nicht bewegen. Hektisch sah er nach vorne. Die Kurve kam immer näher. Er versuchte, die Türen aufzustoßen und die Fenster zu öffnen, aber sie waren fest verschlossen. Verzweifelt rüttelte er am Lenker, probierte an die Bremse zu gelangen oder das Gaspedal freizubekommen – alles ohne Erfolg. Der Wagen raste unaufhaltsam auf die Kurve zu. Panisch hämmerte und trat Thomas gegen die Türen und Fenster. Doch sie gaben keinen Millimeter nach. Dann erreichten sie die Kurve und das Auto schoss über den Straßenrand hinaus. Im nächsten Moment stürzte es in einen dort angrenzenden See. Sofort strömte Wasser in das Wageninnere.

Wie ein Wahnsinniger trommelte Thomas gegen die Scheiben. Er rüttelte an den Türen, schrie, tobte und weinte. Es half nichts – der Wagen versank immer weiter im Wasser. Hasserfüllt und schwer atmend starrte er auf die beiden Skelette, die unverändert grinsend nach vorne blickten. Dann wurde ihm schwarz vor Augen. – In diesem Moment ging der Wagen langsam, ganz langsam unter.

Am nächsten Morgen fand man Thomas tot in seiner Zelle. – Herzversagen, wie der Arzt später feststellte.

 

–Andreas Ballnus —

_________________________

ZUM AUTOR

Andreas Ballnus
Jahrgang ’63, Liedermacher und Autor.  Unter dem Nick „anbas“ hat er in dem Literaturforum „Leselupe.de“ eine Vielzahl seiner Texte veröffentlicht. Er lebt in Hamburg und verdient sein Geld als Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst. Weitere Informationen: andreasballnus.de.tl

Bildquellen

  • Andreas Ballnus: Sebastian Lindau
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Andreas Ballnus erzählt in seiner Kolumne „Kann passieren“ reale Begebenheiten, fiktive Alltagsgeschichten und manchmal eine Mischung aus beidem. Diese sind wie das Leben: mal humorvoll, mal nachdenklich. Die Geschichten erscheinen jeweils am letzten Freitag eines Monats in business-on.de.

Hier finden Sie eine Übersicht aller Beiträge, die von Andreas Ballnus erschienen sind.

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Lesen Sie auch die  Buchbesprechung zur Antologie „Tierisch abgereimt“.

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