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Kolumnen & Glossen

Kolumne „Kann passieren …“ – Du

Vor Jahren wollte unser Autor Andreas Ballnus an einem Schreibwettbewerb der besonderen Art teilnehmen. Es ging darum, eine besonders schlechte Kurzgeschichte zu schreiben. Sein Versuch scheiterte kläglich. Anstatt eine schlechte Kurzgeschichte zu schreiben, entstand ein – zwar experimenteller, aber doch spannender – Text, der Lesende immer mehr in den Bann zieht.

Foto: Parilov / Adobe Stock

Ich bin vernarrt in dich.
Ich bin in dich vernarrt, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe.
Ich sah, wie du in jenem kleinen Bistro Tee trankst.
Ich fand, dass du eine unbeschreibliche Ruhe und Anmut ausstrahltest.
Ich wollte dich gleich ansprechen, doch ich traute mich nicht.
Ich folgte dir durch die Stadt, nachdem du das Bistro verlassen hattest.
Ich war gespannt darauf, wo du mich überall hinführen würdest.
Ich ging meistens nur wenige Schritte hinter dir:

– vom Bistro durch die Fußgängerzone zum Bahnhof
– vom Bahnhof in die U-Bahn
– nach zwei Stationen stiegst du wieder aus
– von der Haltestelle zu einem Friseur, bei dem du etwa eine Stunde lang bliebst
– vom Friseur in den Supermarkt, wo du Tiefkühlkost kauftest
– vom Supermarkt zu einem Mietshaus, das du ohne Zögern betratst

Ich warte seitdem vor diesem Haus.
Ich vermute, dass du dort wohnst.
Ich schaue mich um und stelle fest, wie heruntergekommen die Gegend hier ist.
Ich finde, dass dies kein schöner Ort ist, an dem du anscheinend lebst.
Ich male mir aus, wie unsere erste direkte Begegnung verlaufen könnte.
Ich stelle mir aber auch vor, wo du vorhin noch überall hättest hingehen können.
Ich wäre dir so gerne weiter gefolgt, um dich zu beobachten:

– vom Bistro in die Fußgängerzone
– von dort in den nächsten Buchladen

Ich wäre gespannt darauf gewesen, zu erfahren, welche Bücher dich interessieren.

– vom Buchladen in ein Schuhgeschäft

Ich hätte vielleicht deine nackten Füße sehen können.

– vom Schuhgeschäft in die Damenabteilung eine Kaufhauses

Ich hätte zugesehen, wie du dir verschiedene Kleidungsstücke anschaust.
Ich hätte es genossen, wenn du einige davon anprobiert hättest.
Ich hätte dich in jedem Kleid, in jeder Hose, in jeder Bluse wunderschön gefunden.
Ich hätte mir vorgestellt, wie es ist, wenn du die Sachen an- und wieder ausziehst.

– von der Damenabteilung zu den Schreibwaren
– von den Schreibwaren zu den CDs und DVDs

Ich möchte wissen, welche Musik du gerne hörst und welche Filme du gerne siehst.

– von den CDs und DVDs in die Abteilung mit der Bettwäsche

Ich hätte mir ausgemalt, in welcher Bettwäsche wir zusammen liegen würden.

– von der Abteilung mit der Bettwäsche wieder hinaus in die Fußgängerzone
– von dort weiter in eine Parfumerie
– von der Parfumerie in einen Blumenladen

Ich hätte dir dort eine Blume geschenkt und dich endlich angesprochen.

Ich finde es schade, dass dies alles nicht geschehen ist.
Ich stehe nun schon seit Stunden vor diesem Haus.
Ich friere, da es kalt ist und regnet.
Ich habe weder eine Regenjacke noch einen Schirm dabei.
Ich spiele mit dem Gedanken, dich zu besuchen.
Ich weiß aber nicht, in welcher Etage du wohnst.
Ich will nicht überall klingeln.

Ich finde, du hättest wirklich noch weiter shoppen gehen sollen.
Ich hätte dann sicherlich die Möglichkeit gehabt, dich anzusprechen.
Ich wäre dir erst gefolgt und hätte dich später angesprochen.
Ich denke, wir wären dann zu dir in deine Wohnung gegangen.
Ich würde mich wohl fühlen und nicht frieren.

Ich stehe aber stattdessen vor diesem beschissenen Haus und warte auf dich.
Ich merke, wie Ärger in mir hochsteigt.

Ich bin mir im Grunde sicher, dass du mich bemerkt hast, wie ich dir folgte.
Ich denke, deshalb hättest du mich auch ansprechen müssen.
Ich weiß, dass du mich absichtlich ignoriert hast.
Ich durchschaue immer mehr dein mieses Spiel.

Ich friere deinetwegen.
Ich werde deinetwegen vielleicht noch krank.
Ich schätze, dass dir das egal ist.
Ich bin dir egal.
Ich werde mir deine Ignoranz nicht gefallen lassen.
Ich verachte dich.
Ich hasse dich.
Ich denke, jemand wie du hat es nicht verdient, weiter zu leben.
Ich weiß schon, weshalb ich hier auf dich warte.

Du Schlampe!

– Andreas Ballnus —

_________________________

ZUM AUTOR

Andreas Ballnus
Jahrgang ’63, Liedermacher und Autor. Außerdem ist er Gründungs- und Redaktionsmitglied der Stadtteilzeitung „BACKSTEIN“. Unter dem Nick „anbas“ hat er in dem Literaturforum „Leselupe.de“ eine Vielzahl seiner Texte veröffentlicht. Er lebt in Hamburg und verdient sein Geld als Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst. Weitere Informationen: andreasballnus.de.tl

Bildquellen

  • Andreas Ballnus: Sebastian Lindau
  • Frau in der Stadt: Parilov / Adobe Stock
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Andreas Ballnus erzählt in seiner Kolumne „Kann passieren“ reale Begebenheiten, fiktive Alltagsgeschichten und manchmal eine Mischung aus beidem. Diese sind wie das Leben: mal humorvoll, mal nachdenklich. Die Geschichten erscheinen jeweils am letzten Freitag eines Monats in business-on.de.

Hier finden Sie eine Übersicht aller Beiträge, die von Andreas Ballnus erschienen sind.

Interview: 100 x Andreas Ballnus

Lesen Sie auch die  Buchbesprechung zur Antologie „Tierisch abgereimt“.

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