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Kolumne „Kann passieren …“ – Klaglos in Deutschland

Das Leben kann manchmal ziemlich hart und gemein sein. Und es gibt nicht wenige Menschen, die daran zerbrechen. Doch es gibt auch Zeitgenossen, die diese Härte des Lebens fast schon als Lebenselixier benötigen. Von ihnen handelt der folgende satirisch-lästerhafte Beitrag unseres Autors Andreas Ballnus.

Wenn man den Durchschnittsdeutschen zur Begrüßung fragt, wie es ihm geht, und er antwortet „Danke, kann nicht klagen!“, dann steht es höchstwahrscheinlich schlecht um ihn – auch, wenn ihm das gerade noch gar nicht so bewusst sein mag. Tatsächlich sieht er aber in diesem Augenblick keinen Sinn mehr in seinem Leben. Denn der Deutsche braucht eigentlich immer etwas, worüber er klagen und jammern kann. Das liegt so in seiner Natur, wie den Russen das Saufen und den Japanern das permanente Fotografieren, wenn sie im Urlaub unterwegs sind. In den meisten Deutschen steckt nämlich ein kleiner Masochist, der das Leid braucht, um sich zu spüren. Ohne die Möglichkeit, zu klagen, zu jammern oder sich über etwas zu beschweren, fühlt er sich leer. Diese Leere muss sofort ausgefüllt werden – am besten durch einen neuen Grund zum Klagen. Besonders deutlich wird das, wenn jemand antwortet, dass es ihm gut gehe.

„Wie geht es Dir?“
„Oh danke, richtig gut!“
„Ach, das ist ja schön – und wie geht es Deiner Mutter?“

Der Fragende weiß natürlich ganz genau, dass die Mutter des anderen schwerkrank in einem Pflegeheim liegt. Da gibt es immer einen Grund zum Klagen. – Doch wehe, wenn nicht.

„Wie geht es Dir?“
„Oh danke, richtig gut!“
„Ach, das ist ja schön – und wie geht es Deiner Mutter?“
„Danke der Nachfrage, die ist auch richtig gut drauf!“
„Aber die wohnt doch in einem Pflegeheim, oder? Na, dann hat sie aber richtig Glück gehabt. Wenn ich da an die Tante meiner Nachbarin denke – oh mein Gott, sind das Zustände in deren Heim …“

Und schon wurde das Gespräch in einen klagerelevanten Bereich umgeleitet, so dass man bei des Deutschen zweitliebster Beschäftigung nach dem Autofahren angekommen ist.

Aber neben der existenzbedrohenden Lebenssinn-Leere in guten Zeiten, hat das Klagen noch einen anderen Sinn: Man bekommt Aufmerksamkeit. Da nimmt man dann auch gerne das Risiko in Kauf, nicht nur als leidendes Opfer dazustehen, sondern eventuell auch als der größte Depp, der sein Leben nicht in den Griff bekommt – und wenn einem das dann auch noch gesagt wird, hat man gleich wieder einen neuen Grund zum Jammern, da die Menschen alle so herzlos sind und einen nicht verstehen wollen. Selbst derjenige, der als langweiliges Nichts durchs Leben geht, hat plötzlich die Chance für einen kurzen Moment im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen.

Der typische Deutsche reagiert also auf Leid wie pawlowsche Hunde und steigt sofort mit einem kaum zu bändigenden Redeschwall in das Gespräch ein, sobald dieses die Themen Krankheit, Gesundheitswesen, Wetter oder Politik auch nur hauchweise streift. Dies sind die Bereiche, in denen es eigentlich immer etwas zu klagen gibt. Und was nicht beklagenswert ist, wird beklagbar gemacht.

„Wie geht es Dir?“
„Danke, mir geht es richtig gut!“
„Na, dann hoffen wir mal, dass das so bleibt. Es kann ja so schnell etwas passieren. Gerade neulich ist der Vater von einem Schulkameraden meines Sohnes einfach so umgekippt. Herzinfarkt. Furchtbar – und die Familie steht jetzt vor dem Ruin.“

An diesem Punkt kann man dann sagen, was man will – das imaginäre Damoklesschwert ritzt schon an der heilen Welt des Wohlbefindens. Schuld sind natürlich immer der Betroffene selbst, die Politiker, die Flüchtlinge oder das Wetter. – Oder auch alle auf einmal. Ich warte noch auf den Moment, in dem jemand darüber lamentiert, dass die Politiker, die der Nachbar gewählt hat, zu viele Flüchtlinge ins Land lassen, die dann zu viel furzen, was wiederum das Klima so beeinträchtigt, dass der Golfstrom seine Richtung ändern wird, wodurch wir dann die nächste Eiszeit bekommen und aufgrund des maroden Gesundheitssystems alle verrecken werden.

Aber wehe, jemand besteht darauf, dass es uns, also den Deutschen, besser geht, als wie vor dreißig Jahren und dann auch noch anregt, man solle sich auf das konzentrieren, was gut bei uns läuft. Derjenige, der so etwas sagt, wird bombardiert mit Beweisen des Gegenteils, gilt als weltfremd, als jemand, der seine Augen vor den eigentlichen Problemen unserer Zeit verschließt.

Dabei hat dieser Mensch nie behauptet, dass alles gut sei, wie es ist. Er hat nur darauf hingewiesen, dass es viele Dinge gibt, die besser sind, als wie sie es noch vor einigen Jahren waren. Doch damit macht er sich zum Spielverderber im Club der Dauernörgler. Denn natürlich ist es in allen anderen Bereichen des Lebens viel schlimmer geworden, so dass der Untergang der Menschheit unmittelbar bevorsteht.

Doch es geht auch anders. Selbst in Nörgel-Deutschland gibt es Menschen, die mit einem positiven und optimistischen Blick durchs Leben gehen. Und oft sind es gerade jene, die in der Top-Liga der germanischen Jammerlappen mitspielen könnten.

Vor einigen Jahren führte ich folgendes Telefonat mit einem Bekannten, bei dessen Frau gleich mehrere schwere unheilbare Erkrankungen festgestellt worden waren.

„Na, wie geht es euch?“
„Danke, uns geht es gut!“
„Was macht Renate?“
„Die musste noch mal ins Krankenhaus. – Aber uns geht es gut.“
„Okay, und du hast dir deshalb frei genommen? Oder hast du Nachtschicht, weil ich dich jetzt zu Hause erreiche?“
„Nein, ich habe mir die Schulter gebrochen und bin krankgeschrieben. Aber glaub mir, es geht uns gut!“

Ich bewundere solche Menschen. Doch wenn ich anderen von diesem Telefonat erzähle, bekomme ich häufiger mal Dinge zu hören wie: „Ach, die lügen sich doch nur in die Tasche!“ – Und da ist sie wieder, die kleine, nach Leid lechzende, teutonische Heulsuse, die es nicht fassen kann, dass man nicht mit ihr spielen will.

Trotz aller Bewunderung sind mir allerdings diese Alles-ist-gut-Redner auch irgendwie suspekt. Handelt es sich vielleicht wirklich nur um Verdrängungsmechanismen? Oder sind diese Leute so oberflächlich und dumpf, dass sie das Leid in ihrem Leben gar nicht wahrnehmen? Wie auch immer – es ist trotzdem gut, dass es sie gibt. Irgendjemand muss ja schließlich ab und zu etwas Sonnenlicht in unser sonst so düsteres Leben bringen.

Ich selber schließe mich übrigens aus der Riege der Jammerlappen, Klageweiber, Heulbojen oder wie man uns sonst noch nenne mag, nicht aus. Aber als Betroffener wird man doch wohl hin und wieder mal ein wenig über die ganze Jammerei klagen dürfen.

 

–Andreas Ballnus —

_________________________

ZUM AUTOR

Andreas Ballnus
Jahrgang ’63, Liedermacher und Autor.  Unter dem Nick „anbas“ hat er in dem Literaturforum „Leselupe.de“ eine Vielzahl seiner Texte veröffentlicht. Er lebt in Hamburg und verdient sein Geld als Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst. Weitere Informationen: andreasballnus.de.tl

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Kolumne Kann passieren

KOLUMNE KANN PASSIEREN

Andreas Ballnus erzählt in seiner Kolumne „Kann passieren“ reale Begebenheiten, fiktive Alltagsgeschichten und manchmal eine Mischung aus beidem. Diese sind wie das Leben: mal humorvoll, mal nachdenklich. Die Geschichten erscheinen jeweils am letzten Freitag eines Monats in business-on.de.

Hier finden Sie eine Übersicht aller Beiträge, die von Andreas Ballnus erschienen sind.

Interview: 100 x Andreas Ballnus

Lesen Sie auch die  Buchbesprechung zur Antologie „Tierisch abgereimt“.

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