Klartext
Es ist Mittag, und ich bin auf dem Weg zu meinem Stammbistro. An freien Tagen gehe ich gerne mal zum Frühstücken dorthin. Erst lange schlafen, dann mich irgendwann gemächlich auf den Weg machen – so liebe ich es.
Das Bistro befindet sich bereits in Sichtweite. Nur noch eine Straße ist zu überqueren. Die Fußgängerampel springt gerade auf Grün, als ich sie erreiche. Doch in dem Moment, in dem ich die Fahrbahn betreten will, schneidet mich ein Auto, das langsam an mir vorbeifährt. Ich kann im letzten Moment noch abbremsen. Ärgerlich schlage ich mit der flachen Hand gegen die Heckscheibe, sehe erst jetzt, dass sich Kinder auf der Rückbank befinden.
Der Wagen hält an und die Fahrerin steigt aus. Sie beschimpft mich in einer fremden Sprache. Hört sich osteuropäisch an, könnte Polnisch sein. Ich schimpfe zurück. Auf Deutsch.
Die Frau steigt wieder ins Auto und fährt weiter. Auch ich setze meinen Weg fort und habe das Gefühl, dass alles gesagt wurde, was gesagt werden musste.
Sauerbraten mit Knödel
Sie saßen einander schräg gegenüber. Ein Ehepaar, beide Ende fünfzig, Urlauber wie ich. Es war Sonntag. Trotz des wunderbaren Wetters hatten sich bisher nur wenige Wanderer auf der Terrasse des Ausflugslokals eingefunden. Von ihrem Platz aus konnten sie weit in die Ferne bis zu den Alpen schauen. Doch sie nutzten diese Möglichkeit nicht, sondern schauten aneinander vorbei ins Leere.
Er bestellte für beide. Und er bestellte für beide das gleiche. Dann schwiegen sie. Schon vorher hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt. So saßen sie da, starrten aneinander vorbei und wechselten kein Wort, bis das Essen kam. Sauerbraten mit Knödel, böhmischer Art, dazu tranken sie Apfelschorle.
Schweigend aßen sie ihre Mahlzeit. Eine kurze Bemerkung über das Essen. Es schmeckte ihnen, obwohl es anders war als gewohnt. Dann schwiegen sie weiter.
Eine unerträgliche Schwere lag in jenen Momenten auf dieser Terrasse und ließ die angenehme Sommerluft immer schwüler werden. Ich zahlte und ging. „Daheim wird man wahrscheinlich von einer harmonischen Ehe sprechen“, dachte ich noch, bevor ich die Terrasse verließ und meine Wanderung fortsetzte.
Burnout
Nachdem mir mein Kopf explodiert war, konnte ich wieder lächeln. Über die Leichen um mich herum wunderte ich mich nicht. Sie saßen auf den Bänken in der Wartezone, und jeder hatte seine Wartenummer noch in der Hand. Der Automat, der diese Nummern herausgab, war von der Wand gerissen und zerstört worden. Man würde sich Gedanken darüber machen müssen, wie es ohne ihn weitergehen sollte. Aber inzwischen hatten wir ja Übung darin, Ausfälle jeglicher Art zu kompensieren.
Mein letzter Kunde schleppte sich mühsam zum Ausgang. Er war schon sehr geschwächt, als ich ihn zu mir ins Büro holte. Ich weiß nicht, wie lange er warten musste, bis endlich seine Nummer aufgerufen worden war. Fast wäre er dann auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch gestorben. Um den damit verbundenen bürokratischen Aufwand zu vermeiden, bot ich ihm den Rest meines Pausenbrotes an. Dieses verschlang er dann unter Tränen.
Die Kollegin aus dem Nachbarbüro ging mit einem angestrengten Lächeln von einem Toten zum anderen und bot jedem Kaffee und Tee an. Dabei murmelte sie unentwegt vor sich hin: „Ich muss noch kundenorientierter arbeiten! Ich muss noch kundenorientierter arbeiten! …“
An der Tür unseres Chefs hing ein Schild, auf dem stand „Ich komme gleich wieder“‘. Er hatte sicherlich wieder ein Meeting mit der Amtsleitung oder anderen wichtigen Leuten. Jeden Tag war er unterwegs, ich hatte ihn schon seit Wochen nicht mehr gesehen.
Die Türen der übrigen acht Büros waren bereits vor einigen Monaten mit roten Absperrbändern und Stacheldraht verrammelt worden. So sollte verhindert werden, dass die Besucher des Amtes dort übernachteten. Die Kollegen, die in diesen Büros einst gearbeitet hatten, waren längst verstorben, in Rente gegangen oder auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben. Um die Nachbesetzung der Stellen konnte sich wegen des Personalmangels leider niemand kümmern.
„Der Nächste bitte“, sagte ich ruhig und ließ meinen Blick durch die Wartezone streifen. Als niemand reagierte, beschloss ich Feierabend zu machen.
Klagelaute
Die Alarmanlage des Autos piepste nervtötend bis es endlich von dem Abschleppwagen fortgebracht wurde. Zielstrebig kurvte dieser durch die kleinen Gassen zur nächsten Hauptstraße. Von dort aus fuhr er die Sammelstelle für falschgeparkte Autos an, die sich ganz am anderen Ende der Stadt befand.
Vor dem Supermarkt jaulte ein junger Hund. Die Frequenz der Alarmanlage des Autos, quälte seine empfindsamen Ohren. Er konnte sich dem Lärm auch nicht entziehen, da er angebunden war. So zerrte er erfolglos an der Leine und gab seinen Unmut kund.
Das Kind saß im Einkaufswagen und schrie wie am Spieß. Es wollte unbedingt den kleinen Hund streicheln, den es draußen vor dem Supermarkt gesehen hatte. „Ei machen!“, brüllte es immer wieder. Doch die Mutter hatte es eilig.
Die Stimme der Frau überschlug sich regelrecht. Den Tränen nahe schrie sie ihre Wut heraus. Eine prallgefüllte Einkaufstasche stand neben ihr auf dem Boden. An der Hand hielt sie ihr übermüdetes Kind, das ständig „Ei machen!“ brüllte. Sie war sich ganz sicher, an dieser Stelle ihr Auto abgestellt zu haben.
Inspiration
„Ich bin Schriftsteller und brauche das Leid als Inspiration“, sagte er bedeutungsvoll und schaute mich eindringlich an, während er bedächtig an seiner Zigarette zog. Dann schwieg er und starrte an mir vorbei ins Leere. Schon bereute ich es, ihn angesprochen zu haben.
Er saß, wie jeden Tag bei gutem Wetter, an einem der Tische, die draußen vor dem Bistro standen, und trank gemächlich einen Kaffee nach dem anderen. Tiefe Falten zeichneten sein Gesicht. Die vielen Kippen im Aschenbecher und das leere Blatt Papier des Schreibblocks vor ihm ließen eine Schaffenskrise erahnen – oder war die Welt etwa besser geworden?
Ich bot an, ihm eine in die Fresse zu hauen, worauf sich das Faltenspiel seiner Stirn intensivierte.
„Du verstehst mich nicht, bist ignorant wie alle anderen auch“, murmelte er enttäuscht – und begann zu schreiben.
Bedankt hat er sich bei mir nie.
Nächtliche Klänge
Es ist gegen 23.00 Uhr. Ein Sonntag. Der Sommer 2018 ist heiß, sehr heiß sogar. Um diese Zeit aber liegt eine behagliche Stille über dem Stadtteil. Auch in der kleinen Nebenstraße, durch die ich während meines nächtlichen Spazierganges schlendere, ist es ganz still. Doch dann wird diese Ruhe jäh gestört. Tiefe, kehlige Laute einer jungen Frau schwellen an zu ekstatischem Liebesgestöhne, hallen zwischen den Backsteinbauten umher und ziehen mich, sowie vermutlich weitere unfreiwillige Zuhörer, in ihren Bann. Doch obwohl viele Fenster geöffnet sind, ist niemand zu sehen, der die Quelle dieses Hörspiels erkunden möchte.
Gerade als ich weitergehen will, erklingt aus der Dunkelheit die Stimme einer älteren Frau. „Leiser!“, ruft sie. Ihr Tonfall ist nicht aggressiv, sondern eher norddeutsch trocken, fast schon lakonisch – es musste eben einfach mal gesagt werden.
Gespannt warte ich ab. Das lustvolle Treiben geht jedoch unbeirrt weiter. Es scheint sogar noch intensiver zu werden. Da meldet sich die Stimme noch einmal: „Nun komm schon, du Aas!“
– Andreas Ballnus —
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ZUM AUTOR
Andreas Ballnus
Jahrgang ’63, Liedermacher und Autor. Außerdem ist er Gründungs- und Redaktionsmitglied der Stadtteilzeitung „BACKSTEIN“. Unter dem Nick „anbas“ hat er in dem Literaturforum „Leselupe.de“ eine Vielzahl seiner Texte veröffentlicht. Er lebt in Hamburg und verdient sein Geld als Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst. Weitere Informationen: andreasballnus.de.tl
Bildquellen
- Andreas Ballnus: Sebastian Lindau
- abendstimmung_alster_andreas_ballnus: Andreas Ballnus