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Kolumnen & Glossen

Kolumne „Kann passieren …“ – Im Takt der Zeit

Das Beobachten von Menschen kann hin und wieder sehr interessant sein und auch richtig Spaß machen. Wer kennt sie nicht, jene „Fenstergucker“, die von ihrer Wohnung aus das Treiben auf der Straße beobachten. Oft haben sie ein dickes Kissen vor sich liegen, auf das sie sich bequem abstützen können. Auch der Protagonist in der Geschichte „Im Takt der Zeit“ unseres Autors Andreas Ballnus, verfolgt gern das Treiben seiner Mitmenschen.

katjahartmann82 / Pixabay.com

Pünktlich um neunuhrdreißig verließ er das Haus. Zum Glück gab es gerade eine Regenpause. Zwar nieselte es noch ein wenig, doch das war kein Vergleich zu den Schauern, die in den letzten Stunden über die Stadt hinweg gezogen waren und endgültig den Herbst eingeläutet hatten. Mit leicht zitterigen Fingern zog er den Reißverschluss seiner Jacke ganz nach oben und zurrte die Kordel seiner Kapuze fest. Kühl war es geworden. In den nächsten Tagen würde er sich die Winterkleidung aus dem Keller holen.

Langsam ging er durch die kleine Siedlung, die wie ein eigenständiges Dorf am Stadtrand lag, zur U-Bahnstation. Auch heute benötigte er exakt acht Minuten für den Weg. Nur, wenn er jene ältere Dame traf, die um diese Zeit hin und wieder ihre kleine quirlige Promenadenmischung Gassi führte, konnte es mal etwas länger dauern. Er hatte immer ein paar Leckerlies dabei, was ihn bei der Hundedame recht beliebt gemacht hatte. Auch ihr Frauchen schien ein gewisses Interesse an ihm zu haben, doch das ignorierte er geflissentlich.

Die U-Bahn verlief hier oberirdisch. Am Bahnsteig angelangt steuerte er zielstrebig auf die einzige Bank zu, die unter einer Überdachung stand und so zumindest etwas wind- und regengeschützt war. Kurz darauf fuhr auch schon die Bahn ein. Der Zugführer grüßte ihn mit einem kurzen Nicken. Lächelnd grüßte der Alte zurück. Er kannte inzwischen fast alle Fahrer, die für die U-Bahn arbeiteten. Gesprochen hatte er allerdings noch nie mit einem von ihnen.

Um diese Zeit waren vor allem Rentner, Hausfrauen und Mütter mit kleinen Kindern unterwegs. Sie alle kannten den Alten, der jeden Tag dort saß. Doch nur wenige blieben stehen oder setzten sich zu ihm, um ein paar Worte zu wechseln.

Der nächste Zug fuhr ein. Wieder waren es überwiegend vertraute Gesichter, die er entdeckte. Auch den etwa achtjährigen Jungen, der zusammen mit seiner Mutter aus dem letzten Wagen ausstieg, kannte er. Normalerweise war dieser aber erst nachmittags mit ein paar anderen Jungs unterwegs, um mit ihnen zusammen zum Fußballtraining oder dem Bolzplatz zu fahren. – Eine vertraute Person zur falschen Zeit. Das war mal eine interessante Abwechslung. Der Alte schaute genauer hin und sah, dass bei dem Kleinen einer der Ärmel schlaff hinunterhing und unter der Jacke die Kontur eines angewinkelten Armes zu sehen war.

„Eih, was ist da denn passiert?“, fragte er, als die beiden an ihm vorübergingen.
„Ein Unfall“, antwortete die Mutter, ohne den Schritt zu verlangsamen.
„Dann wünsche ich gute Besserung!“, rief der Alte hinterher, froh darüber, dass er überhaupt eine Antwort erhalten hatte.

Gegen zehnuhrfünfzig tauchte der junge Mann auf, der in den letzten Monaten häufiger mal hier vorbei kam – ein großer, schlaksiger Kerl, der stets etwas ungepflegt war und nach Tabak und Alkohol roch. Sein etwas unsicherer Gang ließ vermuten, dass er schon wieder oder noch immer angetrunken war. Als er den Alten sah, schlurfte er zu ihm hinüber und setze sich neben ihn.

„Na, alles klar bei Dir?“
Der alte Mann nickte.
„Und bei Dir?“, fragte er ruhig.
„Muss ja.“

Dann schwiegen beide, so wie meistens, wenn sie sich trafen. Anfangs hatte der Alte noch versucht, mehr über den jungen Mann zu erfahren, doch dieser blockte die meisten seiner Fragen ab und blieb einsilbig. Nur gelegentlich unterhielten sie sich mal über unverfängliche Dinge, wie das Wetter oder Fußball. Doch in der Regel blieb es bei kurzen Allgemeinplätzen.

„Na dann…“, sagte der junge Mann nach einiger Zeit und erhob sich. „Ich muss jetzt los, hab noch was vor.“
„Alles klar, mach’s gut“, erwiderte der Alte. „Bis zum nächsten Mal.“

Er konnte sich zwar nicht vorstellen, dass der andere wirklich etwas vor hatte, doch fragte er nicht weiter nach. Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging der junge Mann zum Ausgang. Der Alte blickte ihm hinterher, bis er den Bahnsteig verlassen hatte. Gerne hätte er mehr über ihn erfahren, doch er spürte, dass dieser Junge noch Zeit brauchte, um sich weiter zu öffnen.

Bis zwölfuhrfünf blieb er auf seiner Bank sitzen, beobachtete weiterhin vertrautes Kommen und Gehen, wartete auf Ausnahmen und neue Ereignisse. Als dann die nächste Bahn kam, stieg er ein und fuhr die dreiundzwanzig Minuten bis zum Hauptbahnhof. Dort angekommen schlenderte er zu dem Imbiss, der sich auf dem Vorplatz befand. Mit wachen Augen verfolgte er auch dabei das Geschehen um sich herum.

Als der Imbissbetreiber ihn kommen sah, begann er, eine Curry-Wurst fertig zu machen, dazu gab es Pommes-Rot und eine Cola. „Na Harald, alles gut? Gibt’s was Neues?“, begrüßte er den Alten und stellte ihm das Essen hin. „Ja, alles gut, Mirko“, erwiderte dieser und fügte hinzu: „Nächste Woche kannst du mir mal ’ne Frikadelle zurecht machen oder auch ein Schaschlik.“ Dann widmete er sich in aller Ruhe seinem Essen. Auch jetzt ließ er immer wieder den Blick schweifen, um die Leute zu beobachten.

Mit einem kurzen „Tschüss“ verabschiedeten sich die beiden, und Harald schlenderte zum Bahnhof zurück. Unterwegs überlegte er, ob er Mirko von dem Lütten hätte erzählen sollen, der sich den Arm gebrochen hatte. Doch der musste sich vermutlich schon so viele Geschichten anhören – warum sollte er ihn jetzt auch noch mit seinen Erlebnissen belästigen.

Harald betrat nun den Bahnhof, kaufte sich eine Tageszeitung und ging dann zielstrebig zu einem der Bahngleise, von dem die Fernzüge abfuhren. Auch dort gab es eine Bank, von der aus er das Treiben beobachtete. Hier verlief aber kaum etwas in der Routine, wie auf der U-Bahnstation. Zwar kannte er die meisten Menschen, die auf dem Bahnsteig arbeiteten, doch gab es hier nur wenige Fahrgäste, die regelmäßig wiederkamen.

Heute gab es keine besonderen Ereignisse. Doch Harald konnte sich auch an Kleinigkeiten erfreuen – eine besonders adrett gekleidete junge Frau, ein trotz des Trubels friedlich schlafendes Kind in seiner Karre, oder ein Spatz, der nach Nahrung suchend auf dem Bahnsteig umher hüpfte.

Gegen fünfzehnuhrdreißig gönnte er sich einen Kaffee und ein Stück Kuchen. Heute hatte er allerdings Pech, da die Stehtische des Bäckers in der Bahnhofsvorhalle alle besetzt waren. Also ging er zurück auf den Bahnsteig mit einem Coffee-to-go und genoss dort seine – wie er es nannte – „Pause vom Zusehen“. Die Spatzen freute es, da er ihnen einige Kuchenkrümel zuschnippste. Seine Zeitung, die er sonst immer beim Bäcker las, blätterte er im Laufe des Nachmittags flüchtig durch und beschloss dann, sie abends zu Hause ausführlich zu lesen.

Um siebzehnuhrzwölf machte sich Harald dann auf die Rückfahrt. Nachdem er wieder zurück war, setzte er sich erneut auf seinen Stammplatz. Wie an jedem Freitag wartete er nun auf die Kleine, die immer zwischen siebzehnuhrfünfundvierzig und achtzehnuhr die Bahn in Richtung Innenstadt bestieg. Die „Kleine“ war Anfang zwanzig, doch er kannte sie bereits, als sie noch ein Kind war und zur Schule ging. Seit einigen Jahren machte sie sich freitags immer besonders fein zurecht und fuhr in die Stadt. Er wusste nicht, was sie dort tat, doch das interessierte ihn auch nicht. Ihr Anblick war es, der ihn jedes Mal erneut verzauberte. Sie selber hatte ihn in all den Jahren noch nie beachtet. Nachdem sie in die Bahn gestiegen und abgefahren war, machte er sich langsam auf den Heimweg.

Morgen würde er nicht hierher kommen. Morgen war Samstag, da musste er sich um die Wohnung und den Wocheneinkauf kümmern. Und sonntags machte er gewöhnlich einen Spaziergang – allerdings nur, wenn es das Wetter zuließ. Diesmal wollte er wieder zu der Baustelle für die neue Schnellstraße gehen. Auf einem kleinen Hügel hatte er eine Bank entdeckt, von der man einen guten Blick auf die Arbeiten und später auf die Straße hatte. Wer weiß, vielleicht würde er noch einmal etwas in seinem Leben verändern.

–Andreas Ballnus —

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ZUM AUTOR

Andreas Ballnus
Jahrgang ’63, Liedermacher und Autor.  Unter dem Nick „anbas“ hat er in dem Literaturforum „Leselupe.de“ eine Vielzahl seiner Texte veröffentlicht. Er lebt in Hamburg und verdient sein Geld als Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst. Weitere Informationen: andreasballnus.de.tl

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Andreas Ballnus erzählt in seiner Kolumne „Kann passieren“ reale Begebenheiten, fiktive Alltagsgeschichten und manchmal eine Mischung aus beidem. Diese sind wie das Leben: mal humorvoll, mal nachdenklich. Die Geschichten erscheinen jeweils am letzten Freitag eines Monats in business-on.de.

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