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Kolumnen & Glossen

Kolumne „Kann passieren …“ – Manuela

Bei einem Spaziergang über einen kleinen Friedhof entdeckte unser Autor Andreas Ballnus das Grab von Manuela. Aus dieser „Begegnung“ entwickelte sich eine besondere Beziehung zwischen ihm und dieser Grabstätte. Hierüber berichtet er in dem aktuellen Beitrag dieser Kolumne. Lediglich den Namen des verstorbenen Kindes hat er geändert.

Es war im Jahr 2001, als ich erstmals vor Manuelas Grab stand. Schnee lag auf den Wegen. In den letzten Tagen hatte es viel geschneit, und die tiefen Temperaturen versprachen ein weißes Silvester.

Ich nahm damals an einem Seminar teil, das über den Jahreswechsel hinweg stattfand. Die Akademie befand sich am Rande einer Kleinstadt. Der angrenzende Wald lud zu ausgiebigen Spaziergängen ein, für die wir in den langen Mittagspausen ausreichend Zeit hatten. Auf einem dieser Spaziergänge gelangte ich zu jenem Waldfriedhof. Ich weiß nicht mehr, was mich dazu bewog, ihn zu betreten und zwischen den Gräbern umherzuschlendern. Doch hin und wieder folge ich bei Wanderungen und Spaziergängen einfach meiner Intuition, lasse mich treiben und dann überraschen, wohin mich mein Weg führt.

Manuelas Grab lag in der Nähe des Eingangs. Es handelte sich offensichtlich um ein Kindergrab. Lediglich ihr Vorname stand auf dem Stein, an dessen oberen Teil die kupferne Figur eines winzigen, vielleicht daumengroßen Vogels angebracht war. Über ihrem Namen befand sich ein kleiner geschmiedeter Baum. Außerdem steckte eine violette Blume aus Holz im Erdreich. Da überall Schnee lag, der selbst auf den Grabsteinen kleine Hauben gebildet hatte, fiel sie mir sofort ins Auge – ein leuchtender Farbfleck inmitten der verschneiten Winterwelt.

Von Anfang an übte dieser Ort eine seltsame, nahezu magische Anziehungskraft auf mich aus. In den folgenden Jahren besuchte ich hin und wieder mal Manuelas Grab, wenn ich in der Akademie an einer Fortbildung teilnahm. Irgendwann fiel mir auf, dass es sich anscheinend um ein Familiengrab handelte, in dem aber bisher nur Manuela begraben worden war. Die gesamte linke Seite war noch frei.

Je öfters ich bei dem Grab vorbeischaute, um so mehr begannen mich die Hintergründe zu interessieren. Wer war Manuela? Wie alt war sie, als sie starb? Woran ist sie gestorben? Was ist mit ihren Eltern, ihrer Familie? Außerdem hatte ich an dem Tag, an dem ich das Grab entdeckt hatte, ein Foto von ihm gemacht. Es strahlte viel Ruhe aus, wie ich fand. Eine Zeitlang dachte ich daran, es gut verpackt oder sogar laminiert dort zu hinterlegen. Aber das erschien mir dann doch zu aufdringlich, so dass ich davon absah und es bei meinen Besuchen beließ.

Es waren etwa fünfzehn Jahre vergangen, als ich an einem verregneten Wintertag wieder einmal das Grab besuchte. Ich hatte dort lange nicht mehr vorbeigeschaut. Die Grabstätte sah aus, als würde sich niemand mehr um sie kümmern. So gab es keine richtige Bepflanzung mehr. Gras und Unkraut bedeckten den Boden, und auf der Umrandung hatte sich Moos ausgebreitet. Nur zwei kleine Büsche wuchsen links neben der Stelle, an der Manuela begraben worden war. Sie standen dort, wo man sonst weitere Grabsteine gesetzt hätte. Es wirkte auf mich so, als würden sie dort symbolisch für die Eltern stehen.

Ich fragte mich, ob ich wohl der Einzige wäre, der hier hin und wieder mal vorbeischaute? Bei diesem Gedanken war ich frei von irgendwelchen Vorwürfen oder moralischen Grundsätzen. Nein, ich fällte kein Urteil, sondern dachte an Manuelas Familie. War ihr etwas zugestoßen, so dass sie sich nicht mehr um das Grab kümmern konnte? Hatte sie keine Kraft mehr dafür? Oder wollte sie eine Art Schlussstrich unter das ziehen, was einst geschehen war?

Wieder spürte ich diese so schwer zu beschreibende Anziehungskraft, die jener Ort auf mich ausübte. Und ich beschloss, dass ich auf jeden Fall weiterhin Manuela besuchen werde, wenn ich dort in der Gegend bin. Vielleicht bringe ich ja beim nächsten Mal ein paar Blumen oder etwas anderes mit.

 

–Andreas Ballnus —

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ZUM AUTOR

Andreas Ballnus
Jahrgang ’63, Liedermacher und Autor.  Unter dem Nick „anbas“ hat er in dem Literaturforum „Leselupe.de“ eine Vielzahl seiner Texte veröffentlicht. Er lebt in Hamburg und verdient sein Geld als Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst. Weitere Informationen: andreasballnus.de.tl

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Andreas Ballnus erzählt in seiner Kolumne „Kann passieren“ reale Begebenheiten, fiktive Alltagsgeschichten und manchmal eine Mischung aus beidem. Diese sind wie das Leben: mal humorvoll, mal nachdenklich. Die Geschichten erscheinen jeweils am letzten Freitag eines Monats in business-on.de.

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