Das ist vermutlich schon vielen Frauen passiert, mir auch. Als „Fotze“ bezeichnete mich seinerzeit ein Verkehrsteilnehmer …
… den ich daraufhin anzeigte (hier nachzulesen). Natürlich kam er ungeschoren davon. Ärgert mich bis heute, da bin ich dünnhäutig. Das darf ich auch sein, weil ich (noch) keine Politikerin bin. Die müssen nämlich qua Gerichtsbeschluss ein dickeres Fell als normale Frauen haben. Hat Renate Künast anscheinend nicht. Die Grünen-Politikerin legte gegen das Urteil des Landgerichts Berlin Beschwerde ein. Facebook-Posts über sie mit Formulierungen wie „Stück Scheiße“, „Drecks Fotze“ und „Sondermüll“ wurden von den Richtern nicht als strafbare Beleidigungen, sondern als zulässige Meinungsäußerung bewertet. Nicht generell, aber eben in diesem Fall, weil diese Kommentare einen Sachbezug hätten. Zur Erklärung: 1986 debattierte man im Bundestag über die Strafbarkeit von Pädophilie. Künasts Zwischenruf „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist!“ kam nicht gut an. Ihre Richtigstellungen im Nachhinein auch nicht. Bei der Aufarbeitung der Pädophilie-Fälle, an denen Grünen-Politiker beteiligt waren, wurde die Bundestagsdebatte samt des Künastschen Zwischenrufs in einem WELT-Artikel 2015 wieder aufgerollt. Kürzlich postete ein radikaler politischer Gegner diesen Artikel und löste damit einen Shitstorm aus. Das „Sachbezug-Urteil“ scheint, so die Befürchtung, Tür und Tor für „Beleidigungen“ unter der Gürtellinie geöffnet zu haben. Fragwürdig allerdings bleibt in jedem Fall die Titulierung von Frau Künast als „Sondermüll“, weil sie nicht mit dem angeführten sexuellen „Sachbezug“ zu rechtfertigen ist. Mein Verdacht: Das Gericht hat an Dosenpfand und Mülltrennung, also an Lieblingsthemen der Partei „Die Grünen“ als „Sachbezug“ gedacht.
Mit Sprachlenkung die Welt verbessern?
Dass ausgerechnet heute, im Zeitalter von Social Media, Jauchekübel über Politiker entleert werden, ist jedoch kein Zufall. Das Netz ist die Plattform für freie Meinungsäußerung. Doch werden bürgerliche Umgangsformen nicht eingehalten, zeigt sich in Windeseile, wie antastbar die „Würde“ des Menschen tatsächlich ist. Da Pöbler, Querulanten und Enthemmte keine sprachlichen Tabus kennen, will der Europäische Gerichtshof Facebook nun zwingen, beleidigende Kommentare aufzuspüren und zu löschen. Damit sind diese vielleicht aus dem World Wide Web, aber keineswegs aus den Köpfen. Die wissenschaftlich gesehen recht naive Vorstellung, dass Sprache mit Wirklichkeit gleichgeschaltet ist, treibt mitunter seltsame Blüten. Werden Menschen und ihre Wirklichkeit besser, wenn die Sprache der Guten herrscht und „böse“ Sprache geächtet wird?
Naive Vorstellungen dieser Art beflügeln offenkundig auch diejenigen Sprachlenker, die unsere Schriftwelt mit großen „I“s, Sternchen, Auslassungszeichen etc. aus den Angeln heben wollen. Ich habe einmal einem Vortrag beigewohnt, bei dem der Redner immer eine Pause nach Rentner und vor dem Suffix -innen machte, um klarzustellen, dass beide Geschlechter, nämlich die Rentenempfänger als auch die zumeist finanziell schlechter gestellten Rentenempfängerinnen gemeint seien. Für das dritte Geschlecht hatte er noch keine rhetorische Lösung. Offenbar sind Diverse noch nicht im Rentenalter oder im Versicherungsdeutsch angekommen.
Spaß beiseite: Der Riss, der durch unsere Gesellschaft geht, zeigt sich am augenfälligsten in der Sprache. Auf der einen Seite röhrt die Sprache der Pöbler, der Querulanten, der Enthemmten, denen keine Äußerung vulgär genug ist, um ihrer Meinung zum Ausdruck zu verhelfen; auf der anderen Seite wabert die Sprache der Fraktion der Übervorsichtigen, die allen nur denkbaren Empfindlichkeiten zuvorkommen will und bei niemandem anecken möchte. Diese Fraktion hat enormen Einfluss in der Öffentlichkeit und in den Medien. Sprachgebrauch soll reglementiert und an Gesinnungen angepasst werden. So berücksichtigen viele Stellenanzeigen mittlerweile auch „Diverse“, obwohl nicht jeder weiß, was damit gemeint ist. Eingestellt haben Firmen diese Menschen vermutlich auch schon vorher.
Im Ringen um die Sprachhoheit hat sich der Trend zu substantivierten Gerundiva wie Studierende, Auszubildende, Lehrende und Lernende fest etabliert. Ich schlage vor, dass wir das fortsetzen. Warum nicht auch von Backenden, Frisierenden, Kochenden, Putzenden und Dienstleistenden sprechen. Die Gewerkschaftenden könnten für alle bessere Sprachregelungen durchsetzen, am besten mit Streikenden. Das klingt alles wunderbar aktiv und fast so poetisch wie das Wort Liebende. Aber wäre irgendjemandem wirklich damit gedient, wenn neben diesen Wortbildungen, für welche die deutsche Sprache so unglaublich gut geeignet ist, auch die Fraktion der vulgär Wütenden mit Begriffen wie „Scheißende“, „Sondermüllproduzierende“ oder „Scheidenbesitzende“ aufwarten würde? Würde die Welt dadurch auch nur einen Deut besser? Oder klänge das wenigstens anders und irgendwie auch ein bisschen netter?
Susan Tuchel