Unser Gedächtnis heißt Google, warum also das eigene Gehirn noch bemühen?
Unkenrufe bei Medienbrüchen gab es schon immer.
Beim Wechsel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit hegte Sokrates im 4. vorchristlichen Jahrhundert den Verdacht, dass die Erfindung der Buchstaben die Seelen der Lernenden zu Vergessenheit und Vernachlässigung des Gedächtnisses führen werde. In der Retrospektive nach 2.400 Jahren sieht das anders aus.
Ich denke, der Siegeszug der Vernachlässigung des Gedächtnisses begann erst mit der Mengenlehre und dem Nichtmehr-Auswendiglernen von Schillers Glocke, erreicht aber mit der Digitalisierung seinen echten Höhepunkt. Alles, was uns aktuell entfallen oder wir uns erst gar nicht mehr gemerkt haben, tippen wir kurz beim Universalgedächtnis Google ein. Das ist ungeheuer praktisch.
Wäre da nicht die bundesweite NAKO-Gesundheitsstudie, an der ich teilgenommen habe. Alle Untersuchungen und Computerbefragungen liefen gut, bis ein freundlicher Mitarbeiter mich bat, mir 12 Begriffe, die er mir nun innerhalb von wenigen Sekunden nennen werde, im Anschluss zu repetieren. Es fielen Begriffe wie Strand, Ritter, Brief und Butter.
Als ich nach Hause kam, gab ich bei Youtube das Stichwort „Gedächtnistraining“ ein. Dann sah ich mir einige Videos des Gedächtnistrainers und Mnemotechnik-Experten Gregor Staub an. Ich schrieb ihm eine Mail. Wenig später rief er mich aus einem Schweizer Hotelzimmer an. Wir plauderten und er schickte mir einen Aktivierungscode für sein megamemory Gedächtnistraining. Nach Monaten der Prokrastination habe ich mich nun entschlossen, mein Gehirn zu trainieren, auch wenn es kein Muskel ist.
Vorbauen statt abbauen
Das Geheimnis der Staubschen-Mnemo-Technik liegt in der Verbindung von Logik und Gefühlen. Gearbeitet wird mit der bildlichen Vorstellung und Geschichten, die mir Spaß machen und meine Phantasie beflügeln. Ziel ist es, sich Lernstoff besser aneignen zu können, Reden frei halten zu können, das Namens- und Zahlengedächtnis zu schulen (also nie wieder die PIN vergessen) und schneller Sprachen lernen zu können.
Aktuell bin ich bei Lektion 5 angelangt. Ich beherrsche die Baumliste schon sicher und stehe am Anfang der 100-er Liste. Meine Erwartungen sind hoch geschraubt. Ich möchte mir am Ende des 30-stündigen E-Learning-Kurses alle Namen merken können, wenn sich Leute in einer großen Runde vorstellen, ich möchte Telefon- und Handynummern auswendig können, damit ich überleben kann, wenn mir mein Handy einmal gestohlen werden sollte, ich möchte alle Länder Afrikas nennen können oder meine 299 Facebook-Freunde mit Vor- und Zunamen kennen.
Aber ganz gewiss möchte ich bei der zweiten NAKO-Studie in vier Jahren den Mitarbeiter beim Gedächtnistest verblüffen, wenn ich gleich beim ersten Mal alle 12 Begriffe, die er mir nennt, runterrattern kann.
Susan Tuchel