„Warum hast Du dem Mann kein Geld gegeben?“, fragt das Kind und schaut mich eindringlich an.
Derweil hatte der junge Mann den U-Bahn-Wagen verlassen und war schnell zum nächsten gelaufen. Durch die Frontscheiben sehe ich, wie er auch dort eine kurze Ansprache hält und die Leute, so wie in unserem Wagon, sofort genervt wegsehen, miteinander tuscheln oder ihn ganz bewusst ignorieren. Auch in dem Abteil findet sich niemand, der ihm etwas gibt.
„Sag schon, warum“, bohrt das Kind weiter.
Mir wird klar, dass ein einfaches Überhören der Frage nicht funktionieren wird. Mein Kopf geht unter Protest in einen gestressten Arbeitsmodus über. Wie erkläre ich das einem Achtjährigen, dessen Welt in vielen Dingen noch so einfach ist?
„Es gibt zu viele von diesen Menschen“, sage ich. „So viel Geld habe ich nicht, um allen etwas zu geben.“
„Hast du denn jetzt kein Geld?“
„Doch, aber ich habe mich irgendwann dazu entschieden, niemandem etwas zu geben, der bettelt. Dafür spende ich Geld an Organisationen, die diesen Leuten helfen, und kaufe regelmäßig das Obdachlosenmagazin. Und in der U-Bahn gebe ich erst recht nichts – auch keinen Leuten, die Musik machen. Hier nerven die mich total“, antworte ich und füge in Gedanken hinzu: „Außerdem arbeite ich im sozialen Bereich, und irgendwann ist auch mal Schluss mit dem ständigen ‚Kümmern und Helfen‘“.
Der Kleine schweigt. Ob er mich verstanden hat?
„Aber der Mann brauchte jetzt Geld, um etwas Essen zu kaufen.“
Verdammt, er lässt nicht locker. Wie soll ich ihm das mit meinen grundsätzlichen Überlegungen erklären? Ich versuche es noch mal.
„Also, es gibt zu viele Menschen, die Hilfe brauchen. Denen kann ich nicht allen helfen. Außerdem gibt es immer wieder welche, die erzählen dir irgendwas, nur um Geld zu bekommen. Das geben sie dann aber nicht für Essen aus, sondern für Drogen oder Alkohol. Ich will aber nicht bei jeden einzelnen entscheiden müssen, ob ich ihm etwas gebe oder nicht. Darum habe ich mich dazu entschieden, keinem Einzelnen mehr Geld zu geben, sondern eben diesen Organisationen.“
Obwohl unser Gespräch gerade erst begonnen hat, merke ich, dass es mich jetzt schon anstrengt. Wie befürchtet hält das Schweigen des Kleinen nicht lange an.
„Aber vielleicht brauchte der wirklich Hilfe …“, murmelt er. Sein Blick hat sich verändert, ist voller Unverständnis und irgendwie traurig.
„Weißt du, jeder der so dringend Hilfe braucht, kann Geld vom Staat bekommen. Niemand muss hier betteln“, entgegne ich und spüre sofort einen bitteren Beigeschmack. Das, was ich gerade von mir gebe, entspricht nun gar nicht meiner Überzeugung. Warum, zum Henker, sage ich dann so etwas? Als nächstes bringe ich noch so ’nen Scheißspruch aus der asozialen Ecke wie „soll doch arbeiten gehen“. Ich muss aufpassen, dass mich meine gerade deutlich spürbare Hilflosigkeit nicht in die komplett falsche Richtung drängt. Der Kleine macht mich echt fertig.
„Aber du könntest ihm helfen, wenn du willst, oder?“
‚…wenn du willst…‘ – großer Gott, hat dieser Knirps einen Rhetorikkurs belegt oder was geht hier ab? Ich bin kurz davor, ihn mit einer Floskel wie ‚das verstehst du noch nicht‘ abzuspeisen. Doch dagegen wehrt sich alles in mir. Dies wäre dann die komplette Niederlage.
„Pass mal auf, das ist alles nicht so einfach, wie du denkst“, höre ich mich da schon sagen. – Scheiße, worin unterscheidet sich dieser Spruch von ‚das verstehst du noch nicht‘?
„Warum nicht?“ unterbricht er mein Gedanken- und Gefühls-Chaos.
„Weil das eben alles nicht so einfach ist“, wiederhole ich meine gerade schon vorgetragene Bankrotterklärung. Gleichzeitig wird mir immer bewusster, dass der Kleine nicht ganz Unrecht hat. Grundsatzentscheidungen können auch aus Bequemlichkeit getroffen werden. Man muss sich über den Einzelfall keine Gedanken mehr machen, kann sein Unbehagen dahinter verstecken und muss nicht mehr über alternative Handlungsmöglichkeiten nachdenken.
Mir fällt meine Tante ein, die am Stadtrand wohnte. Wenn sie mal in die Innenstadt fuhr, was sie allerdings selten tat, hatte sie immer fünf Mark in Fünfzigpfennigstücken dabei und verteilte diese solange unter den Bettlern, bis das Geld aufgebraucht war. – Kein Modell für mich, da ich zu oft in der City unterwegs bin. Aber es könnte trotzdem der Ansatz für ein anderes Vorgehen sein. Doch ich bin ein bequemer Mensch und befürchte, dass ich meinen Grundsätzen treu bleiben werde.
Ich danke meinem Neffen (8 Jahre), der mich mit deutlich weniger Fragen zu vielen Gedanken und zu diesem Text inspiriert hat.
–Andreas Ballnus —
_________________________
ZUM AUTOR
Andreas Ballnus
Jahrgang ’63, Liedermacher und Autor. Außerdem ist er Gründungs- und Redaktionsmitglied der Stadtteilzeitung „BACKSTEIN“. Unter dem Nick „anbas“ hat er in dem Literaturforum „Leselupe.de“ eine Vielzahl seiner Texte veröffentlicht. Er lebt in Hamburg und verdient sein Geld als Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst. Weitere Informationen: andreasballnus.de.tl
Bildquellen
- Andreas Ballnus: Sebastian Lindau
- Hand: Bild von truthseeker08 auf Pixabay
