Sie war wirklich gut. Nur ein Eingeweihter konnte erkennen, wie sich ihr Blick für den Bruchteil einer Sekunde verfinsterte, als sie mich sah. Ich genoss diesen Moment, so wie jedes Mal, wenn wir uns begegneten. Doch auch dieses Mal verlor sie nicht die Beherrschung und fragte mich ganz professionell und höflich nach meinen Wünschen. Ich wusste, sie hasste mich. Doch bis auf diesen kleinen, kaum wahrnehmbaren Moment, ließ sie es sich nicht anmerken.
Unsere Feindschaft begann vor etwa zwölf Monaten. Damals kam ich aufgrund meiner Arbeitszeit, die häufiger mal bis in den späten Abend hinein reichte, oft erst zwischen einundzwanzig und zweiundzwanzig Uhr zum Einkaufen. Da der Supermarkt bei mir um die Ecke sogar bis Mitternacht geöffnet hatte, konnte ich also noch in aller Ruhe nach Feierabend meine Besorgungen erledigen. Ursprünglich war ich ja gegen die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten gewesen und hatte akribisch darauf geachtet, die Geschäfte nach neunzehn Uhr nicht mehr zu betreten. Doch nach und nach nahm ich die Möglichkeit immer häufiger wahr, auch zu späterer Stunde einzukaufen – besonders freitagabends, denn dadurch hatte ich, im Gegensatz zu früher, am Samstag mehr Zeit für andere Dinge.
So kam es, dass ich vor ungefähr einem Jahr gegen 21.40 Uhr die Käse- und Wursttheke jenes Supermarktes aufsuchte. Mir war damals noch nicht bewusst gewesen, dass dieser Bereich bereits zwei Stunden vor Ladenschluss geschlossen wurde. Daher war sie, also jene Bedienung hinter der Theke, schon dabei, die Waren zu verpacken und wegzuräumen. Die Schneidemaschinen und Messer waren bereits gereinigt worden. Schließlich wollte sie pünktlich Feierabend machen.
„’N Abend! Kann ich noch was bekommen?“, fragte ich damals ganz unbedarft. Sie brummte ein kurzes „Aber ja doch!“, spannte etwas Frischhaltefolie über eine Schale mit Aufschnitt und wandte sich dann mir zu. Ich orderte zunächst ein Stück vom mittelalten Gouda. Da keines der fertig geschnittenen Stücke die richtige Größe hatte, musste sie mit dem schon gereinigten Messer von einem anderen Stück etwas abschneiden und dieses dann neu verpacken. Das war beim Käse schon alles. Weiter ging es mit dem Aufschnitt.
„Zwei Scheiben Roastbeef, bitte.“ Sie zog die Frischhaltefolie von dem Teller, den sie gerade zugedeckt hatte, wieder ab und wollte mir von den dort liegenden Scheiben zwei abzählen. „Könnten Sie mir nicht bitte zwei frische Scheiben abschneiden?“, fragte ich freundlich. „Ich habe die Maschine schon sauber gemacht“, antwortete sie kurz und legte die beiden Scheiben auf die Waage. „Aber diese Scheiben sind schon leicht angetrocknet“, entgegnete ich. „Die schmecken trotzdem!“, brummte sie.
Bis zu diesem Zeitpunkt war ich zwar von ihrem Umgangston nicht gerade begeistert gewesen, hatte aber auch keine Mühe damit gehabt, darüber hinwegzusehen, beziehungsweise, darüber hinwegzuhören. Doch jetzt erwachte der Kampfgeist in mir – und ein kleines Teufelchen. So bestand ich nun erst recht auf zwei frisch abgeschnittene Scheiben. Höchst widerwillig folgte sie nach einem weiteren kurzen Wortgeplänkel meiner eindringlichen Bitte. Danach orderte ich drei Scheiben vom Schweinebraten – frisch geschnitten natürlich. Eigentlich wäre das alles gewesen, doch jetzt bat ich sie noch um zweihundert Gramm Mett. Dieses war von ihr, wie ich kurz zuvor beobachtet hatte, bereits ganz unten in dem Rollwagen verstaut worden, mit dem sie die Ware in den Kühlraum transportieren wollte. Sie schnaubte kurz auf, holte das Mett hervor und reichte es mir kurz darauf wortlos zusammen mit dem übrigen Aufschnitt.
„Oh, entschuldigen Sie“, sagte ich nun betont freundlich. „Da fällt mir ein, dass ich noch 150 Gramm Höhlenkäse bräuchte – in Scheiben, bitte.“ „Die Maschine habe ich auch schon …“ Als sie meinen entschlossenen Blick sah, brach sie ab und wandte sich wortlos dem Käse und der Maschine zu. „War’s das jetzt?“, fauchte sie mir über den Tresen zu. „Für heute ja“, erwiderte ich freundlich und ging in Richtung Kasse. Mein „Schönen Abend noch!“, ließ sie unbeantwortet.
Zu meinen negativen Eigenschaften gehört es, dass ich höchst nachtragend sein kann. Daher kaufe ich seit dem nur noch kleinere Mengen an Aufschnitt ein. So muss ich zwar öfters zum Supermarkt, doch ich habe meine Freude daran. Denn natürlich erscheine ich dort immer erst kurz bevor die Wurst- und Käsetheke geschlossen werden soll, und nur, wenn jene Verkäuferin da ist. Selbstverständlich kaufe ich alles nur in Scheiben – frisch geschnitten, versteht sich. Jedes Mal sind wir beide darum bemüht, so zu tun, als hätten wir ein normales Verkäufer-Kundenverhältnis. Während wir anfangs noch das eine oder andere Mal aneinander geraten waren, ist sie inzwischen sehr gut darin, sich nichts mehr anmerken zu lassen – bis auf diesen winzigen Augenblick, den aber nur ich wahrnehmen kann.
– Andreas Ballnus —
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ZUM AUTOR
Andreas Ballnus
Jahrgang ’63, Liedermacher und Autor. Außerdem ist er Gründungs- und Redaktionsmitglied der Stadtteilzeitung „BACKSTEIN“. Unter dem Nick „anbas“ hat er in dem Literaturforum „Leselupe.de“ eine Vielzahl seiner Texte veröffentlicht. Er lebt in Hamburg und verdient sein Geld als Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst. Weitere Informationen: andreasballnus.de.tl
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