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Kolumne „Kann passieren …“ – Im Ruheabteil

Die Deutsche Bahn bietet bereits seit Jahren „Ruheabteile“ an. Hier sind Telefonate, lautes Musikhören über Kopfhörer und andere störenden Geräusche unerwünscht. Unser Kolumnist Andreas Ballnus mag es etwas ruhiger, wenn er mit der Bahn unterwegs ist, und reserviert sich daher gerne in diesen speziellen Abteilen einen Platz. Doch manchmal kommt es dann doch völlig anders als geplant.

Chris Reas melancholischer Blues begleitet mich während der ersten dreißig Minuten. Mehrfach habe ich überprüft, ob meine Musik auch leise genug ist und nicht etwa die Mitreisenden stören könnte. Die Nacht war kurz und unruhig gewesen. Es ist mittags gegen elfuhrdreißig, doch ich fühle mich so, als wäre es erst sechs Uhr morgens – trotz Cappuccino am Bahnhof.

Ich habe mir einen Sitzplatz in einem Großraumabteil reservieren lassen, das als Ruhebereich ausgewiesen ist. Schon vor einigen Jahren hatte ich zufällig mitbekommen, dass die Bahn solche Abteile anbietet. Dort weisen extra Schilder darauf hin, dass man hier um Ruhe bittet.

Leider gibt es immer wieder Menschen, die diesen Hinweis nicht sehen oder nicht sehen wollen. Vor allem schützt es nicht vor solchen Idioten, die ihre Musik so laut aufdrehen, dass das Schrappen aus den Kopfhörern im gesamten Abteil zu hören ist. Genau zwei davon sitzen einige Plätze vor mir.

Auch vor überdrehten und – um es positiv zu formulieren – recht lebhaften Kindern, die den Begriff „Ruheabteil“ sehr schnell ad absurdum führen, ist man nicht gefeit, wie ich zu meinem Leidwesen gerade feststellen muss. Mindestens sechs von dieser Sorte, verteilt auf drei Mütter, befinden sich in dem Wagen. Sie sind, wie ich aus ihren Gesprächen sehr schnell erfahre, auf der Heimreise von einer Mutter-Kind-Kur.

Ich setze meinen MP3-Player ein, um mich vor dem Lärm der anderen zu schützen. Chris Rea leistet gute Arbeit, ich kann etwas dösen. Auch die Zeitung lese ich einige Zeit später noch mit eingestöpselten Ohrknöpfen. Inzwischen ist Chris fertig und die Mamas and the Papas schwärmen von Kalifornien.

Es ist mein zweiter Urlaubstag. Mehrere Wochen lärmende Umbauarbeiten auf meiner Arbeitsstelle bei weiterlaufendem Bürobetrieb liegen hinter mir: Verwaltungsarbeit, Klientenberatung und Verhandlungen am Telefon, während ein paar Stockwerke unter mir Mauern durchbrochen, Türen erweitert und neue Leitungen unter Putz gelegt werden. – Ich habe ein deutlich erhöhtes Ruhebedürfnis.

„In einer Stunde müssen wir aussteigen!“, schallt es, die Grenzen meines Hörschutzes locker überwindend, durch das Abteil. Ja, ich mag Kinder – besonders dann, wenn sie die Klappe halten oder in einem normalen Tonfall reden. Doch das eben gerade war selbst für ein munteres Kind kein normaler Tonfall mehr – das war kreischende Sirene pur. Ich frage mich, ob ich vielleicht nur etwas zu lärmempfindlich oder doch eher ein intoleranter kinderloser Spießer bin? Andererseits ist mein großes Verlangen nach Ruhe nun einmal da. Und außerdem befinden wir uns hier in einem Ruheabteil.

„Okay, Kinder können nicht über längere Zeit ruhig sein“, versuche ich mir einzureden. Wirklich nicht? Zwei Plätze vor mir an einem Viererplatz mit Tisch spielt ein Junge mit seiner Mutter ein Brettspiel. Sie sind in das Spiel vertieft. Manchmal lachen sie oder unterhalten sich. Doch das stört mich nicht. Gerade als ich weiter in dieses Bild eintauchen möchte, kreischen diesmal gleich zwei Sirenen einige Meter hinter mir los. Ich atme tief durch und beschließe, die eine Stunde noch durchzuhalten. Hierzu versuche ich mich in Selbstsuggestion: „Es sind Kinder, ich mag Kinder, ich mag Kinder auch weiterhin und ich lerne, auch die zu mögen, die ich wegen ihres Gekreisches am liebsten aus dem Zug werfen möchte“.

Ich merke recht schnell, dass ich mir da eine ziemlich anspruchsvolle Aufgabe gestellt habe. Mein Verstand will das alles durchaus akzeptieren, doch mein Körper signalisiert, zunehmend verkrampfend, andere Signale. Dann schrillt plötzlich auch noch ein Handy, und es folgt irgendwo weiter vor mir ein etwa fünfzehnminütiges Gespräch über die Planung des bevorstehenden Wochenendes. Ich spüre, wie mir mein Hals zunehmend anschwillt und sich meine Zähne ineinander verbeißen. Wie schon so oft fange ich an, darüber zu sinnieren, ob man den Begriff „asozial“ nicht neu definieren sollte, in Anbetracht der beiden Typen mit ihren aufgedrehten Soundanlagen und dem, pardon, Arschloch, welches das Zugabteil mit einer Telefonzelle verwechselt.

Inzwischen haben sich einige der Kinder zusammengesetzt und spielen irgendein Kartenspiel. Eines von ihnen, ein Mädchen, etwa sechs oder sieben Jahre alt, hat die Musik aus ihrem Smartphone voll aufgedreht und brüllt seine Kommentare zu dem Spiel ins Abteil. Nach einer Ewigkeit versucht die Mutter einzuschreiten.

„Hey, sei mal etwas leiser.“
„Was?“
„Du sollst nicht so brüllen!“
„Was ist??“
„Brüll nicht so, wenn du mit mir redest!“
„Was??!“
„Du sollst nicht so brüllen!!“
„Ich verstehe dich nicht“, gluckst das Gör ausgelassen zurück.
„Ja, weil du das Ding so laut aufgedreht hast!“
„Ich kann dich nicht verstehen! Ich kann dich nicht verstehen!“

Die Mutter gibt auf, und ich stehe kurz davor, meine Übung der wachsenden Toleranz ebenfalls zu beenden. Stattdessen drehe ich die Lautstärke meines MP3-Players höher und setze auf den Sound der Les Humphries Singers. Es ist mir inzwischen egal, ob ich jetzt auch zu den Nervensägen gehöre oder nicht. Das hier ist ein klarer Fall von Notwehr. Nach einiger Zeit tun mir jedoch die Ohren weh und ich schalte das Gerät wieder ab.

„Sandra, wo willst du denn jetzt schon wieder hin?“ Die erschöpfte Stimme der Mutter gibt dem Übel einen Namen.

„Sandra“ – bis eben noch mochte ich diesen Namen. Nun ist er aus der Liste der möglichen Namen für die Tochter, die ich vielleicht irgendwann einmal doch noch bekommen werde, für alle Zeiten gestrichen.

„Alles eine Frage der Erziehung“, würde meine Mutter wohl stöhnend vor sich hinmurmeln, und ich würde ihr ausnahmsweise mal beipflichten. Aber das wäre dann eine Bankrotterklärung an meinen eigenen Anspruch und mein gerade begonnenes Training zu mehr Toleranz und Empathie. Schließlich handelt es sich hier um Kinder, die nur spielen wollen – aber das sagen all die Hundebesitzer über ihre Köter auch, wenn diese sich gerade in die Wade eines Joggers verbissen haben.

Ich unternehme einen erneuten Anlauf meiner Selbstsuggestion. Doch als ich wenig später zu meinem eigenen Verdruss feststelle, dass ich immer wieder zu ganz anderen nicht von mir erwünschten Fantasien gelange – gerade sehe ich mich, wie ich der Göre mit dem größten Vergnügen das Kabel von ihrem Kopfhörer zerschneide – breche ich meine Übung endgültig ab. Stattdessen nehme ich den Schreibblock aus dem Rucksack und schreibe über meine Erlebnisse in einem Ruheabteil der Deutschen Bahn.

 

–Andreas Ballnus —

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ZUM AUTOR

Andreas Ballnus
Jahrgang ’63, Liedermacher und Autor.  Unter dem Nick „anbas“ hat er in dem Literaturforum „Leselupe.de“ eine Vielzahl seiner Texte veröffentlicht. Er lebt in Hamburg und verdient sein Geld als Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst. Weitere Informationen: andreasballnus.de.tl

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Andreas Ballnus erzählt in seiner Kolumne „Kann passieren“ reale Begebenheiten, fiktive Alltagsgeschichten und manchmal eine Mischung aus beidem. Diese sind wie das Leben: mal humorvoll, mal nachdenklich. Die Geschichten erscheinen jeweils am letzten Freitag eines Monats in business-on.de.

Hier finden Sie eine Übersicht aller Beiträge, die von Andreas Ballnus erschienen sind.

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Lesen Sie auch die  Buchbesprechung zur Antologie „Tierisch abgereimt“.

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